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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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stürzte er sich mit neuer Energie auf den Häftling. Er zog ein weiteres Papier aus der braunen Mappe, die vor ihm lag, und begann, die Namen mehr oder weniger bekannter Parteifunktionäre aus Saratow, der Gebietshauptstadt auf der anderen Seite der Wolga, laut vorzulesen. Er wollte wissen, wann und wo der Angeklagte die Betroffenen das letzte Mal gesehen habe. Und natürlich, wie viele konspirative Treffen stattgefunden hätten.
    Doch Lorenz schaute ihn nur fassungslos an und sagte auf Deutsch:
    «Ich verstehe gar nichts.»
    Dann schwieg er wieder. Seine ursprüngliche Absicht, endlich selbst Fragen zu stellen – welcher Richter seine Verhaftung angewiesen hatte, nach welchem Paragraphen ihm der Prozess gemacht werden sollte –, ließ er fallen. Das war mit Sicherheit nicht der Ort, an dem man vernünftig mit jemandem reden konnte. Und schon gar nicht mit diesem Choleriker. So schwieg er und wartete, was kam.
    Im Gegensatz dazu schrie sich Schrottkin wieder in Rage. Leugnen sei sinnlos, sie hätten hier bisher jeden zum Reden gebracht. Übrigens komme es auf seine Aussage gar nicht an, die wichtigsten Geständnisse und Namen habe man längst protokolliert. Der NKWD werde diese Sache bald ermittelt haben. Schließlich gebe es noch mehr zu tun, als sich mit einem deutschen Überläufer, bei dem man noch einmal genau hinschauen müsse, was ihn in die Union der Sowjetrepubliken geführt habe, die Nerven zu strapazieren.
    «Ich habe gegen die Faschisten gekämpft», erwiderte Lorenz.
    So ging es ein paarmal hin und her, bis Schrottkin, der offensichtlich der deutschen Sprache nicht mächtig war, restlos die Nerven verlor. Er rutschte immer mehr ins tumbe Fluchen ab. Seine Wörter stammten jetzt aus der dreckigsten Ecke der russischen Vulgärsprache. Derbe Flüche kennt man überall, aber der russische «Mat» ist ein sprachliches Paralleluniversum, in dem es nur so «fickt» und «hurt» und der «Chui», der Schwanz, das meistgebrauchte Wort ist. Und obwohl nahezu die Hälfte der Bevölkerung, vornehmlich Männer, kaum einen Satz ohne Fluch zu Ende bringt, findet sich keines der Wörter im Wörterbuch der russischen Sprache. Der Untersuchungsführer beleidigte die Mutter des sturen Deutschen, in der Hoffnung, vielleicht so etwas aus ihm herauszulocken. Doch Lorenz schwieg. Schwieg beharrlich. Und wenn er etwas sagte, dann nur in seiner Muttersprache.
    «Ich weiß gar nicht, warum Sie sich so aufregen. Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Ich spreche kein Russisch».
    Und damit es auch Schrottkin begriff, wiederholte er radebrechend:
    «Ja ne goworju po russki.»
    Der NKWD-Mann sah den Angeklagten verdutzt an. Lorenz hatte das Gefühl, der Kerl würde gleich explodieren, so rot wurde sein Kopf. Es folgte eine neue Welle derber Mutterflüche. Dazwischen raunte er dem Protokollanten etwas zu, der sprang auf, um nach wenigen Minuten mit einem weiteren Offizier zurückzukehren.
    Leutnant Hofer, Ewald Hofer, ein Wolgadeutscher und sowohl der russischen als auch der deutschen Sprache mächtig. Schrottkin befahl, die Anklagepunkte zu übersetzen. Aber kurz. So machte Lorenz die Bekanntschaft seines zweiten Untersuchungsführers, eines eher weichlichen Typs, gut einen Kopf kleiner als sein Vorgesetzter. Die dicke, rotbraune Hornbrille verlieh ihm etwas freundlich-verbindliches. Das mit Brillantine geglättete Haar und der unter dem Kinn zulaufende Bart ließen vermuten, man habe es allenfalls mit einem städtischen Angestellten zu tun. Wer ihn auf der Straße sah, kam nicht umhin, ihn freundlich zu grüßen.
    Niemand hätte sich vorstellen können, dass ebendieser nette Mensch bisweilen einen am Stuhl festgebundenen Gefangenen ohne Grund und jede Vorwarnung ins Gesicht schlug. Dass er einem Kind ein brennendes Streichholz an die Wange halten konnte, um es zum Weinen zu bringen, damit die Mutter im Raum nebenan alles unterschrieb, was man ihr nur vorlegte. Hofer tat, was man ihm befahl. Tat es gründlich und mit jener inneren Befriedigung eines Angestellten, der wusste, dass alles nach Recht und Gesetz ging. Dass er nichts zu befürchten hatte.
    Der Deutsche schien in der Tat kein Russisch zu verstehen. Es entspann sich ein zähes Frage-und-Antwort-Spiel, bei dem Hofer zwischen Schrottkin und Lorenz wie ein Pingpong-Ball hin und her wechselte. Schrottkin konnte daran keinen Gefallen finden. Seine Geduld reichte nicht lange, grob unterbrach er seinen Gehilfen und forderte Lorenz abermals auf, endlich zu sagen, welchen der hohen

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