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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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war von diesem Zustand mehr als irritiert. Schon wie die meisten «Westgeld», «Westzigaretten» oder «Westtante» aussprachen, ließ sich nicht überhören. Wie bei König Midas vergoldete das Wort «West» praktisch alles. Zuerst tat er das belustigt als «kleinbürgerlichen Widerstand» gegen die neuen Verhältnisse ab. Doch er musste sich korrigieren. Es war nicht nur ein Phantomschmerz in Erinnerung an das Alte. Dahinter steckte mehr. Seine eigene Mutter, die nach wie vor in Gelsenkirchen, nahe bei der Schwester Lydia, lebte, hatte ihm in das erste Paket neben Schokolade für die Kinder und Wolle zum Stricken für Lena einen Füller gelegt. Wohl in Erinnerung daran, dass ihr Lorenz einst auf dem Weg war, Schriftsteller zu werden. Die Ausgabe griff hart in ihre Ersparnisse. Aber sie wusste, der Füllhalter würde ihm gefallen. So lag das Prachtstück in einer Holzschale auf seinem Schreibtisch, und immer, wenn er etwas besonders Schwieriges zu entscheiden hatte, drehte er ihn langsam zwischen den Fingern. Einen vergleichbaren Füller gab es im ganzen Osten nicht. Die weiße Eisspitze der Kappe, der elegant geschnittene Messingbügel, alles an diesem Schreibgerät war bis ins Detail durchdacht. Alles war perfekt. Es war das Mindeste, was man tun musste, um gut zu sein.
    Er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass keine Straßenbahn das Werktor verließ, die diesem Anspruch nicht genügte, nicht solange er dafür verantwortlich war. Sie mussten schnellstens herausfinden, was die Konkurrenz im Westen zu bieten hatte. Auf legalem Weg schien das unmöglich. Wer sollte all die Anträge, Begründungen, Rücksprachen, Kalkulationen für eine West-Dienstreise durchdrücken? Lorenz entschied sich für eine Abkürzung. Der junge Konstrukteur, der ihn ständig mit neuen Zeichnungen und kühnen Schnitten für die Bahnkleider begeisterte, zögerte nicht, als er ihn fragte. Schnell hatten sie eine Legende von einem dringlichen Familienbesuch gestrickt, und schon ging es mit Zeichenblock, Fotoapparat und etwas Reisegeld ins Schwabenland. Tage vergingen. Die Bedenkenträger fühlten sich bestätigt:
    «Ein völlig Unerfahrener …»
    «… und dann gleich in den Westen!?»
    «Na, wenn das mal gutgeht …»
    Da stand der Junge wieder in der Tür des «Technischen». Er brachte Skizzen und Fotos mit, die allesamt belegten, dass die Gothaer nicht nur ähnliche, sondern oft bessere Lösungen gefunden hatten. Von «Werkspionage», wie einige meinten, anmerken zu müssen, konnte also keine Rede sein. Lorenz nannte den Auftrag daher gelassen die «Wiederherstellung des Gleichgewichts». Die Geschichten darüber, wie sich nach dem Krieg erst die eigenen Chefs, dann die Amerikaner, dann die Russen im Werk bedient hatten, machte ihn immer wieder zornig. Dass sich im Osten überhaupt noch etwas drehte, glich einem Wunder. Dreimal geplündert und immer wieder neu aufgebaut, wer sollte das verkraften?
    Die Russen konnten den Abbau ganzer Betriebe nach dem Krieg nur im Wodka-Delirium beschlossen haben. Davon war Lorenz überzeugt. Kaum eine Anlage lief im großen Sowjetreich je wieder. Krane, Maschinen, Werkbänke verrotteten irgendwo in der Steppe, abgekippt gleich neben dem Bahngleis. Selbst in Workuta traf einiges ein. Was nicht zum Ausbessern in den Schächten benötigt wurde, lag auch Jahre später noch unter Schneewehen begraben. So landete eines Tages die gesamte Ausrüstung eines Kieswerks hinter dem Polarkreis. Die Maschinen stammten aus Tambach-Dietharz, einer kleinen Stadt bei Gotha. Keiner kümmerte sich darum, keinen ging die Lieferung aus Deutschland etwas an. Bis im Sommer ein Bagger kam und etwas Geröll drüberschob. Das war’s. Sinnloses Zerstörungswerk.
    Maschinen verrotteten wie Menschen. Lorenz hatte dafür nur eine Erklärung: Stalin glaubte nie daran, dass er die DDR halten könnte. Sein großes Wort von den Hitlern, die kämen und gingen, während das deutsche Volk bliebe, war nur pathetische Floskel. Anders konnte man die Demontage der ostdeutschen Wirtschaft nicht verstehen. Erst seine Nachfolger verhielten sich schlauer. Im Kreml dämmerte die Erkenntnis, dass es günstiger sei, die emsigen Deutschen für sich arbeiten zu lassen.
    Doch genau jene Sowjetunion, die selbst keine brauchbaren Straßenbahnen bauen konnte, maßte sich in Gestalt eines Iwan Iwanowitsch Korenzow, seines Zeichens «Einkäufer», nun an, die Güte der Erzeugnisse aus Gotha in Zweifel zu ziehen. Lorenz fehlten die Worte. Dieser Mann

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