Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
besten in Frage käme. Da würde man sich den Mann ungestört ansehen und dann in aller Ruhe weitere Entscheidungen treffen, ohne dass der in der Belegschaft Unruhe oder krumme Debatten anzetteln konnte. Der Genosse vom ZK hatte angedeutet, dass der Spätheimkehrer nicht freiwillig beim Aufbau des Kommunismus im hohen Norden mitgewirkt hatte.
Feierabend. Fritz hatte schon seine Aktentasche in der Hand, als ihn die Sekretärin in ein endloses Gespräch über die Versorgungslage verwickelte, die wie immer zugespitzt war. Wenigstens zu Weihnachten könnten doch ein paar schöne Sachen wie Apfelsinen und Nüsse in den Handel geworfen werden. Fritz gab ihr ermüdet recht. Da stand plötzlich ein Mann in der Tür. Schon vom Äußeren her machte der einen ungewöhnlichen Eindruck: Schlosserjacke und Krawatte, so etwas trug sonst keiner im Werk.
«Guten Tag, man hat mir gesagt …», begann der Mann, ohne sich lange vorzustellen.
Schon nach den ersten Worten wusste Fritz, der konnte nicht aus der Gegend stammen. Der sprach kein ausgewaschenes Sächsisch wie die anderen.
«… also, man hat mir gesagt, dass ich den Parteisekretär hier finde. Bist du das? Mein Name ist Lorenz, Lorenz Lochthofen. Ich bin seit zwei Wochen im Werk und hätte da einen Vorschlag.»
Das war er also. Fritz schaute den Mann einen Augenblick verdattert an. Zwei Wochen im Betrieb? Wieso? Und er, der Parteisekretär, wusste nichts davon? Der Kaderleiter, dieser Mistkerl, hatte ihn nicht unterrichtet. Gleich morgen würde er ihn sich vorknöpfen. Hatte er ihm nicht eingeschärft, dass der Neue erst zu ihm und dann in die Lehrwerkstatt sollte? Wie stand er jetzt vor den Berlinern da? Wie stand die Partei da? Hatte der Kaderchef den Russen einfach dorthin gesteckt, wo er Arbeiter brauchte. Konnte man eine solche Eigenwilligkeit durchgehen lassen? Nein, man konnte nicht. Die Partei konnte es nicht. Zwei Wochen. Und da sitzt dieser Kadermensch mittags am Tisch und sagt nichts. Macht sich vielleicht noch lustig. Dabei entscheidet die Kaderfrage alles!
Von alldem wusste Lorenz natürlich nichts.
«Schau bitte mal drauf», er faltete sein Papier auf. «Die Arbeit an den Puffern bindet zu viel Kraft und zu viele Leute. Das ließe sich leicht ändern mit einer einfachen Vorrichtung.»
Fritz schaute interessiert und versprach, sich zu kümmern. Die Skizze wanderte in eine Mappe mit der Aufschrift «Verbesserungsvorschläge». Ein Wort gab das andere, und eine halbe Stunde später sah man die beiden bei ihren ersten «sto Gramm» in der «Schiene». Einer Kneipe, die, unmittelbar vor dem Werktor gelegen, weiten Teilen der Belegschaft einen fließenden Übergang in den Feierabend ermöglichte.
Lorenz konnte Fritz sofort mit russischen Trinkweisheiten überzeugen: Da man auf einem Bein bekanntlich nicht stehen kann, folgte auf die ersten «sto Gramm» eine zweite Bestellung. Da aller guten Dinge drei sind, brachte die Bedienung weitere «sto Gramm». Fritz war das nicht gewohnt. Als Lorenz zum vierten Mal Gläser für sie bestellte – «jeder Wagen hat schließlich vier Räder» –, bat Fritz um eine Auszeit. Draußen vor der Tür ordnete der erste Dezemberfrost seine Gedanken. An ein Heimfahren mit dem Motorrad war nicht mehr zu denken. Was Fritz seinem Röschen, die schon seit mindestens zwei Stunden mit dem Abendbrot auf ihn wartete, sagen sollte, fiel ihm auch nicht ein. Mit der Fahne würde sie ihm die «kurzfristig einberufene» Parteiversammlung nicht abnehmen. Durch das beschlagene Fenster sah er Lorenz mit einem Glas in der Hand am Nachbartisch gestikulieren. Fritz war klar, dass Lorenz sein Fehlen frühestens am nächsten Morgen bemerken würde. Er zog seine Mütze tief in die Stirn und marschierte nach Hause.
Das Jahr 1959:
Paula und Lorenz Lochthofen bei der Demonstration am 1. Mai 1959 in Gotha. Unterlage: Arbeitsvertrag und der Ausweis von Lorenz Lochthofen.
Die Bundeswehr bestellt Starfighter-Kampfflugzeuge in den USA, von denen 269 im Verlauf der Jahre abstürzen. Die 1. Bitterfelder Konferenz stellt die Forderung auf: Greif zur Feder, Kumpel! Die Volkskammer beschließt das LPG-Gesetz. Nikita Chruschtschow reist als erster sowjetischer Partei- und Regierungschef in die USA. Der Fünfjahrplan in der DDR wird abgebrochen und durch einen Siebenjahrplan ersetzt. Die SPD verabschiedet das «Godesberger Programm». In der Bundesrepublik erscheinen Heinrich Bölls «Billard um halb zehn» und «Die Blechtrommel» von Günter Grass. Die
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