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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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DDR führt eine neue Flagge mit Ehrenkranz, Hammer und Zirkel ein.

1959
    Erst waberte nur ein Gerücht, dann redeten in der Schlange vor der Essenausgabe alle nur noch über das eine: Der Leiter der Normabteilung war ein Nazi. Einige meinten sogar, er habe in der SS gedient. Aber das stimmte dann doch nicht. Zumindest so viel stand fest: Er hatte seine Mitgliedschaft in der Nazipartei verschwiegen. Damit war er sicher nicht der Einzige im Werk; nicht wenige Parteigenossen rechneten fest mit der Vergesslichkeit der Menschen. Und sollten recht behalten. Nur in diesem Fall nicht. Eine «sozialistische Leiterpersönlichkeit», wie es in der neuen Zeit hieß, konnte dieser Mann jedenfalls nicht bleiben. So einer war nicht zu halten, nicht an einer solch empfindlichen Stelle. Alles, was mit den Normen zu tun hatte, das hatte auch mit dem 17. Juni zu tun.
    Dem 17. Juni.
    Die Erinnerung an die Ereignisse wirkte nach, noch Jahre später. Das blutige Geschehen hatte sich, ohne dass man die Bilder im Fernsehen hätte sehen können, tief ins Bewusstsein der Arbeiter gegraben. Bei der politischen Elite – die Angst. Auch wenn die Ereignisse am Werk merkwürdig spurlos vorübergegangen waren. Zwar hatte sich die Belegschaft auf dem Platz vor der Verwaltung versammelt, es wurde erhitzt gestritten, gefordert und gestikuliert, aber dann machten doch alle pünktlich Feierabend.
    Der Chef der Normenabteilung trug also besondere Verantwortung. Ein findiger Mann musste her, einer, der dafür sorgte, dass der Plan erfüllbar blieb und zugleich die Arbeiter gerade genug verdienten, um nicht wieder zu murren oder gar wegzulaufen. Dorthin, wo ihre alten Chefs längst waren. Viele von ihnen zogen bereits mit den Amerikanern ab – nicht ohne die wichtigsten Unterlagen, Baupläne und Patente. Besonders begehrt waren die Blaupausen des nur aus einem futuristischen Flügel bestehenden Strahljägers, mit dem die Gothaer Flugzeugkonstrukteure die Konkurrenz um Jahre geschlagen hatten. Das Wunderwerk deutscher Technik, zum Kriegsende noch nicht serientauglich, befeuerte die Fantasie der Generäle im Osten wie im Westen. Als dann die Russen einzogen, fanden sie zu ihrem Ärger nur noch die leeren Pappdeckel der Ordner, in denen die vertraulichen Papiere unter Verschluss gelegen hatten.
    Schnell waren sich Werkleiter und Parteisekretär einig: Wenn es einen gibt, der die heikle Aufgabe übernehmen konnte, dann war es Lorenz. Ein Fachmann, beliebt bei den Kollegen, dazu redegewandt, trinkfest. Bei den Stammgästen der «Schiene» galt er in kürzester Zeit als einer der Ihren. Der Tresen in der Kneipe war ein feiner Seismograph für die Stimmung in der Belegschaft. Wer sich hier durchsetzte, genoss Respekt im Werk. Lorenz hatte das nicht nur einige Lokalrunden gekostet, sondern viel Überzeugungskraft, Schnapsglas für Schnapsglas. Am Ende blieb niemand mehr übrig, der ihn beim Wodka herausfordern wollte. Das harte Training im russischen Norden zahlte sich aus.
    Als Fritz die freudige Nachricht überbrachte, reagierte Lorenz zurückhaltend. «Normenfitzerei» hieß diese Art von Beschäftigung bei den Arbeitern. Ekel schwang in dem Wort und Verachtung. Aber eine Wahl hatte er wohl nicht. Seinen Ausflug ins Schlosserleben hielt er für abgeschlossen. Jeder, der es wissen wollte, wusste es nun: Ob Hammer oder Rechenschieber, ihm lag beides gut in der Hand. Er war bereit, sich jeder neuen Aufgabe zu stellen, auch wenn die Abteilung Arbeitsnormen nicht auf seiner Wunschliste stand. Den Irrsinn überzogener Normen kannte er aus Russland. Bisweilen schien es, als sei das gesamte Tun der sowjetischen Planungsbürokratie darauf gerichtet, das Wirken ökonomischer Gesetze außer Kraft zu setzen. Produktivität, Ressourcen, Zeit, sie hielten derlei Kategorien offenbar für Aberglauben. Alles konnte beschlossen werden, und was beschlossen war, das galt, egal wie unsinnig es war. Nicht nur im Gulag, in jedem Winkel des Riesenreichs konnte keiner einer Zahl trauen. Die einen lieferten nicht das, was bestellt war. Die anderen orderten Dinge, die sie nicht brauchten. Die Dritten stellten Sachen her, die keiner haben wollte. Und das stalinistische Planungssystem breitete sich auch in den Satellitenstaaten unaufhaltsam aus.
    Leider hatten die überkorrekten Deutschen das russische Spiel mit Plankennziffern und Normen nicht durchschaut. Nur so konnte sich Lorenz den Aufstand des 17. Juni erklären. Sie glaubten fest an alles, was nur auf dem Papier stand. Für

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