Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
jemand, der die «sowjetskaja Ekonomika» ausgekostet hatte, schien diese Einstellung, wenn auch typisch deutsch, so doch reichlich einfältig.
Trotz der Bedenken stürzte sich Lorenz auf die neue Aufgabe. Bereits das erste vorzeigbare Ergebnis seines Wirkens sorgte für Aufsehen. Den Auftrag, für die Transportarbeiter ein neues Prämien-Zeitlohn-System zu entwickeln, setzte der neue Mann schnell und präzise um. Die Fahrer erlebten nun: Wer sich anstrengt, bekommt mehr Geld. Am Zahltag nahmen sie in der Kantine einen Umweg in Kauf, damit jeder Einzelne Lorenz auf die Schulter klopfen konnte.
«Hast du-du gut gemacht Lo-Lorenzowitsch», stieß ihn Hans «der Stotterer» mit seiner kräftigen Pranke in die Seite.
Entgegen der üblichen Gepflogenheit ergab die «Anpassung» ihrer Löhne nicht weniger, sondern mehr. Was die Arbeiter freute, ließ die Direktoren Böses ahnen. Höhere Verdienste waren nicht das Ziel der Normabteilung. Zu spät. An der Begründung durch den neuen Leiter der Normen gab es nichts zu deuteln. Wer sich querstellte, machte sich verdächtig, dem Klassenfeind in die Hände zu spielen.
Denn Lorenz war überzeugt, was im hohen Norden half zu überleben, das konnte auch jetzt nicht von Nachteil sein. So war in der Vorlage an die Betriebsleitung vom überragenden Beitrag der Transportarbeiter für den Weltfrieden die Rede, und selbst die «Bonner Ultras» bekamen eins drüber. Auch wenn verschwommen blieb, was Adenauer und sein Kriegsminister Strauß mit der Entlohnung der Transportarbeiter in Gotha zu tun hatten … Einmal in Fahrt, schaffte es Lorenz spielend, ein halbes Dutzend Schutzheiliger der sozialistischen Produktion einzuspannen. Sie hießen Tschutkich, Karabelnikowa, Mitrofanow oder Seifert, und ihre ganz persönliche Methode, sozialistisch zu arbeiten, war gespickt mit Einsichten wie «Du sollst nicht trunken zur Arbeit kommen» (du könntest vom Gerüst fallen) oder «Du sollst den Helm aufsetzen auf der Baustelle» (es könnte dir ein Ziegel auf den Kopf plumpsen). Die einfachsten Dinge erschienen als Geistesblitze der neuen Zeit und offenbarten letztlich nur eins: Das Selbstverständliche war unter sozialistischen Verhältnissen nicht selbstverständlich.
Gegen diese geballte Weisheit hervorragender Vertreter der Arbeiterklasse konnte keiner etwas sagen. Trotzdem wuchs in der Chefetage das Unbehagen. Lorenz spürte die Blicke in seinem Rücken; er war nicht sicher, wie lange sich ein solcher Schwebezustand zwischen den Erwartungen der Nomenklatura und den Hoffnungen der Arbeiter durchhalten ließ.
Da kam ihm der Zufall zur Hilfe. Der technische Direktor des Werks wurde unerwartet nach Berlin in die VVB-Zentrale abberufen. Die «Vereinigung Volkseigener Betriebe» war eine Art Holding der Planwirtschaft und Vorläufer der Kombinate. Der alte «Technische» galt nicht direkt als Fehlbesetzung, dennoch wurde sein Weggang mit Erleichterung aufgenommen. Wie er den Absprung nach Berlin geschafft, wer ihm dabei geholfen hatte, sorgte für allerlei Gerede, aber Genaues wusste niemand. Jedenfalls war sein Stuhl über Nacht verwaist, und Lorenz fand sich nach einem kurzen Abstecher in die Welt der Normen hinter einem großen, wie aus einem Stück deutscher Eiche gehauenen Schreibtisch wieder. Menschen für eine neue Aufgabe begeistern, das lag ihm eher, als mit der Stoppuhr neben der Werkbank zu stehen.
Es gab Aufregung, es gab Bedenken. Er scherte sich nicht darum, er schickte ihn los. In den Westen. Ein junger Ingenieur aus der Konstruktionsabteilung fuhr. Warum auch nicht? Mit ihren Straßenbahnen wollten sie weit über die Grenzen des Landes Kunden finden. Im Osten gab es nichts Vergleichbares, aber was war mit dem Westen? Diese Frage musste beantwortet werden. Natürlich wusste jeder, ob Autos, Flugzeuge, Hemden, Margarine oder Kugelschreiber – alles, was von dort kam, war nicht nur bunter oder duftete besser, sondern war auch technisch ausgereifter. In Ostdeutschland saß die Erfahrung der Zweitklassigkeit tief. Niemand fand etwas dabei, täglich in den Betrieb zu gehen, um wissentlich schlechtere Arbeit abzuliefern und zugleich mit der miesen Qualität der Waren anderer unzufrieden zu sein. Die Folge war eine ständige Jagd nach etwas «aus dem Westen», auch wenn die unzähligen Mütter, Tanten, Onkel und Cousinen immer für Nachschub an Seife, Waschpulver, Kaffee, Butter, Konserven und Süßigkeiten sorgten. Wer keine Westverwandten hatte, blieb ein armer Tropf.
Lorenz
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