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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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ließ zum Monatsende, weil ihm gerade danach war oder weil ihm das Frühstück im Hotel nicht geschmeckt hatte oder weil ihm seine Frau aus Moskau wieder einen langen Wunschzettel zugesandt hatte, dieser Mann ließ mehrere Straßenbahnen auf dem Werkhof stehen. Das hieß für den Betrieb, er hatte den Exportplan nicht erfüllt. Das hieß wiederum, die Kreisleitung der Partei stellte blöde Fragen. Ein nicht erfüllter Plan war an sich schon ein Ärgernis. Aber ein nicht erfüllter Exportplan in die Sowjetunion war obendrein ein Politikum. Und da die Partei immer alles besser wusste, durfte die Werkleitung im «kleinen Kreml», der örtlichen Parteizentrale, antreten und ellenlange Erklärungen abgeben, um sich dann von ahnungslosen Funktionären bedeutende Ratschläge anzuhören. So fraß man die Wut in sich hinein und ließ nacharbeiten. Was wiederum zusätzliche Kosten verursachte.
    Dieser verdammte Korenzow mochte nicht viel im Kopf haben, aber wie er aus seiner Position das meiste herausholen konnte, das wusste er. Seine neueste Masche: Die Schlitze der Messingschrauben, mit denen die Buchenleisten der Sitze befestigt waren, standen nicht in einer Richtung. Die Schlitze der Schrauben, wohlgemerkt. Obwohl dies das Bild nicht störte, ja, es kein Mensch überhaupt wahrnahm und es auf Funktion oder Haltbarkeit der Sitzbänke schon gar keinen Einfluss hatte, reichte es, um den Transport einer Partie Straßenbahnen nach Leningrad zu blockieren.
    «Ist der verrückt?!», fragte Lorenz. Er ließ einen dreifachen russischen Fluch über den Gang rollen, dass die Mitarbeiter die Köpfe einzogen, und fragte den Assistenten, wo dieses «arbeitsscheue Element» zu finden sei.
    «Er residiert im ‹Mohren›», die eilige Antwort, «und soll dort jedes Mal eine satte Rechnung auf Kosten der ‹Lowa› stehenlassen.»
    «Du sagst im ‹Mohren›? Das trifft sich gut. Den kauf ich mir.»
    Am Abend stand Lorenz im Zweireiher mit Krawatte in der Tür der Hotelgaststätte. Von acht Tischen waren drei besetzt. Das Pärchen am Fenster hatte offensichtlich mit Straßenbahnen nichts zu tun. Auch unter den Männern, die etwas zu feiern hatten, war der Gesuchte nicht. Übrig blieb ein Mann in einem Anzug aus «amerikanischer Hühnerwolle», wie man in Russland eine solche Stoffqualität zu nennen pflegte. Er schien Ende fünfzig, hinter den dicken Gläsern seiner Hornbrille sahen die Augen klein und blass aus. Mit der rechten Hand hielt er ein Glas Bier und betrachtete vergnügt dessen Inhalt. Die andere Hand ruhte auf einer Schachtel russischer Papirossy. Kein Zweifel, dieser Mann kam aus den Weiten des Sowjetlandes.
    Genussvoll nahm er einen kräftigen Schluck, dann wandte er sich dem Tatar zu. Lorenz schritt entschlossen auf den Freund der deutschen Kaltküche zu.
    «Oh, was für ein seltenes Schauspiel!», begann er. «Ein Russe, der rohes Fleisch isst, wo gibt es so etwas? Das ist doch eher etwas für germanische Barbaren!»
    Korenzows Gesicht, das eben noch den seligen Zustand der frohen Erwartung ausgedrückt hatte, verfinsterte sich. Er mochte es nicht, beim Essen gestört zu werden. Schon gar nicht von einem Landsmann. Nie wusste man, in wessen Auftrag so einer unterwegs war, an wen er seine Berichte schrieb. Schlimmer noch, die meisten hatten kaum Geld. Schlecht bezahlt, schnorrten sie, wo es nur ging, und er, Korenzow, musste ihnen dann auch noch einen Wodka nach dem anderen spendieren. Ohne Hoffnung, dass sich einer von ihnen je revanchierte. Hier nicht und daheim in Russland auch nicht.
    Der ungebetene Gast hatte sich nicht einmal vorgestellt. Korenzow überlegte, ob es eine Möglichkeit gäbe, dem Gespräch auszuweichen, einfach so zu tun, als hätte er nichts gehört. Aber der Eindringling sah nicht aus, als ließe er sich abweisen.
    «Rohes Fleisch? Wie kommen Sie darauf? Es ist eine Farce, eine wunderbar fein durchgedrehte, frische Farce. Es wäre schön, wenn es so etwas Gutes auch bei uns daheim gäbe.»
    «Sie wissen doch, warum das in Russland unmöglich ist?»
    Lorenz spottete weiter, zufrieden, dass es ihm auf Anhieb gelungen war, dem Mann ein Gespräch aufzudrängen.
    Er schaute den Einkäufer herausfordernd an:
    «Richtig! Wegen der winzigen Gesellen, die sich im Nu im rohen Fleisch verlaufen. Hier passt man genau auf. Bei Ihnen zu Hause ist das schwieriger. Ich kannte mal so ein Männlein an der Wolga, dürr, blass, immer schlecht gelaunt, dem ließen die Mitbewohner in seinem tiefsten Inneren keine Ruhe. Womit

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