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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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drückte auf den Knopf der Telefonanlage. Die Tür ging auf, die Sekretärin brachte ein Tablett mit drei Cognacgläsern herein.
     
    Nun war er also in Sömmerda, und aus dieser abgeschabten Kantine sollte der Neubeginn kommen. Der Fortgang seiner kurzen Rede ließ die Gesichter um ihn herum erstarren:
    «Was ich aber in jedem Fall tun werde, meine Herren, falls es so weitergeht wie bisher …» Lorenz durchbohrte mit seinem Blick den Produktionsdirektor, nicht weil der besonders herausfordernd schaute, nein, weil er mit jedem seiner Sätze das Gefühl vermitteln wollte, nicht die anonyme Masse, sondern jeder Einzelne persönlich sei gemeint. «… ich kürze Ihnen Ihre Gehälter samt Ihren üppigen Rentenansprüchen. Jedem Einzelnen. Jedem, der nicht in seinem Verantwortungsbereich dafür sorgt, dass die ihm gestellten Aufgaben erfüllt werden. Jeden Tag.»
    Ich weiß, eure Rentenansprüche sind euch heilig, dachte Lorenz, dann tut etwas dafür.
    «Ab sofort findet täglich punkt zehn an diesem Platz ein Rapport statt. Erscheinen ist Pflicht. Ausnahmen sind bei mir zu beantragen. Schriftlich. Jeder spricht in wenigen Sätzen über den Stand der Planerfüllung in seinem Bereich. Bitte keine allgemeine Erläuterung der Parteibeschlüsse. Glauben Sie mir, die kenne ich besser als Sie. Höchstens eine Stunde, eher weniger, mehr Zeit haben wir nicht. Und noch eins, nicht von den Arbeitern, von uns hängt ab, ob der Motor läuft oder nur stottert. Ich bin entschlossen, ihn wieder zum Laufen zu bringen, und rechne mit Ihrer Unterstützung. Wer das nicht will, der sollte sich schnell einen anderen Arbeitsplatz suchen.»
    In das entsetzte Schweigen hinein bat er die Herren nun, sich kurz vorstellen. Die standen auf, nannten Namen und Funktion, verloren ein paar Worte zu ihrer Arbeit und setzten sich wieder, fest davon überzeugt, dass sich die Sache in der Moped-Kantine alsbald erledigen würde. Ein, zwei Aufzüge «an der Basis» mochten gut für die Außendarstellung sein – nach dem Motto «Seht her, wie nahe ich bei den Arbeitern bin» –, aber im Alltag würde sich das nicht durchhalten lassen.
    Der Rapport am Tag darauf begann so, wie es Lorenz befürchtet hatte. Kurz und präzise etwas zur eigenen Arbeit zu sagen, das hatten die meisten nicht gelernt. Die Vorträge hörten sich an wie Auszüge aus einem Parteitagsbericht im Zentralorgan. Als auch der dritte Redner anhob, die internationale Lage zu erklären, platzte ihm der Kragen:
    «Sie können gewiss sein, ich weiß, wo Moskau und Peking liegen. Also hören Sie auf damit, hier geht es nicht um politischen Nachhilfeunterricht, sondern um Produktion. Wir reden hier von Meerane und nicht von Zakopane. Wenn ich noch einmal in dieser Runde das Wort ‹Revanchisten› oder ‹Weltfrieden› höre, schicke ich Sie raus, und ein anderer übernimmt Ihre Aufgabe. Sie können sich ein paar Notizen auf einer Seite machen. Nicht mehr. Ich will Zahlen hören, keine Parolen. Wie viele Maschinen haben wir produziert, wie viele Maschinen sind wir schuldig geblieben, wer trägt Verantwortung für die Ausfälle? Wenn hier jeder seine Meinung zur politischen Weltlage anbringt, sitzen wir in der Nacht noch da. Sie können Ihre Aufgabe nicht erfüllen? Warum nicht? Was brauchen Sie, um diesen Zustand zu beenden? Was haben Sie unternommen? Kurz, klar.»
    Am dritten Tag trafen sich die Direktoren eine halbe Stunde vor dem Rapport und trugen sich gegenseitig die Berichte vor:
    «Meinst du, das geht?»
    «Bist du sicher, dass er das schluckt?»
    «Was sage ich, wenn er wissen will, warum die fünf Maschinen nicht gekommen sind?»
    «Da antwortest du, wie es ist: Die Vorfertigung hat geschlampt. Sollen die doch zusehen, wie sie es ausbaden.»
    Am Montag im Oktober hatten sie ihren ersten Rapport.
    Am Freitag erfüllte das Werk erstmals seit Jahren den Plan.
    Nach vierzehn Tagen folgte ein letzter Absturz, danach eine Stunde Auswertung in der Moped-Kantine, von der die meisten Beteiligten hofften, dass sie so etwas kein zweites Mal würden erleben müssen. Ab dem 8. November brannte täglich der rote Stern auf dem Kulturhaus als weithin sichtbares Zeichen der Planerfüllung. Ursprünglich für reine Propagandazwecke angeschafft, zeigte der leuchtende Stern eine ungeahnte Wirkung auch nach innen. Jeder, der kam oder ging, konnte sehen, wie es um die Arbeit stand. Das anfängliche Murren über die «russischen Methoden» hörte bald auf. Die Schulden nahmen ab, der Prämienfonds wuchs.

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