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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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sahen nur reglos zurück. Die Stille wurde unerträglich. Lorenz füllte ein weiteres Bierglas mit Schnaps und stellte es vor den Bauern, dorthin, wo das andere volle Glas noch stand.
    «Und? Hast du dich entschieden? Oder willst du wirklich lieber Knecht auf dem eigenen Hof sein?»
    Beim Wort Knecht zuckte der Bauer zusammen. Er schaute den Fremden an. Anders als die vielen, die vor ihm durchs Dorf gezogen waren, hatte er nicht mit Parteibeschlüssen gewedelt, hatte ihm nicht mit Enteignung und Gefängnis gedroht, sondern klar gesagt, wie die Zukunft aussieht. Der Bauer griff nach dem Glas, setzte es an die Unterlippe und presste aus sich heraus:
    «Ich mach’s!»
    Er musste zweimal absetzen und Luft holen, doch dann hatte auch er das erste Glas geschafft. Stellte es krachend auf die Tischplatte und griff nach einem großen Stück Blutwurst.
    Lorenz hob sein drittes Glas und leerte es ungerührt. Dann stand er auf, bedankte sich bei der Bäuerin herzlich für die «vorzügliche Sülze», die ihn, so versicherte er, an die Sülze seiner Kindheit daheim im Ruhrgebiet erinnerte, schüttelte dem Bauern kräftig die Hand und ging festen Schrittes zur Tür. Wie er ins Auto stieg, wie er nach Gotha kam, wie er in sein Bett fand, an all das konnte er sich auch Tage später nicht erinnern.

Das Jahr 1961:

    Lorenz Lochthofen als Werkleiter im Büromaschinenwerk Sömmerda.

Die ersten Zivildienstleistenden nehmen in der Bundesrepublik ihren Dienst auf. Der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin fliegt als erster Mensch ins Weltall. Am 13. August beginnt der Mauerbau. In der DDR wird der Haushalttag für berufstätige Frauen eingeführt. Bei einer FDJ-Aktion werden Fernsehantennen, die Richtung Westen zeigen, abgebaut. Konrad Adenauer fordert die Ausrüstung der Bundeswehr mit Atomwaffen. Am «Checkpoint Charlie» stehen sich amerikanische und sowjetische Panzer gegenüber. Stalins Leichnam wird aus dem Mausoleum entfernt. In der DDR wird Stalinstadt in Eisenhüttenstadt und die Stalinallee in Ostberlin in Karl-Marx-Allee umbenannt. Der Modetanz des Jahres heißt «Twist».

1961

I
    «Meine Herren!»
    Das doppelte «r» rollte knurrend durch den Raum. Lorenz machte eine quälend lange Pause und schaute einen nach dem anderen an. Die versammelten Direktoren für Produktion, Technik und Absatz, den Parteisekretär, von dem er bereits wusste, dass er ihn auf dem kürzesten Weg gegen Fritz austauschen würde, denn einen, der hinter den Linien in den Rücken schoss, so einen konnte er bei dieser Höllenfahrt ganz gewiss nicht brauchen, schließlich die Reihe der Betriebsleiter, verantwortlich für Vorfertigung oder Rechen- und Schreibtechnik. Ein Unternehmen dieser Größe gab vielen Aktentaschenträgern ihr Auskommen. Und das nicht zu knapp.
    Als er hereinkam, hatte die Runde entspannt über das sonnige Wochenende geplaudert. Nun hörten sie teils interessiert, teils gelangweilt dem Neuen zu, auf dass er endlich erklärte, was dieser Ausflug in die Niederungen der Moped-Kantine zu bedeuten hätte. Noch vor fünf Minuten hatten hier auf den Stühlen die Arbeiter der Motorenfertigung gesessen und ihre mitgebrachten Leberwurstbrote gekaut. Der Geruch von Muckefuck-Kaffee hing in der Luft. Die hastig für die Beratung zusammengeschobenen Tische waren mit einem nassen Lappen überwischt und glänzten schmierig. Das taugte allenfalls als Kulisse für die Versammlung einer Brigade, aber keinesfalls für das erste Gespräch des Werkleiters mit seinen Führungskräften. Genau jenen Leuten, mit denen er die Karre aus dem Dreck ziehen sollte.
    Die Kantinenmitarbeiter hatten es offenbar nicht eilig, in die Küche zu verschwinden. Mit Spannung warteten sie darauf, was nun passierte. Dass sich ein Werkleiter je zu ihnen verirrte, daran konnten sie sich nicht erinnern. Dass er gleich mit dem gesamten Direktorat aufmarschierte, schien noch ungewöhnlicher. Und dass sie jetzt «jeden Tag» – und so hieß es wörtlich in dem Schreiben, das sie bekommen hatten –, «jeden Tag» zur gleichen Zeit eine Stunde hier tagen würden, das konnte erst recht niemand glauben. Hier bei ihnen in der Moped-Baracke. Dabei hatte der Werkleiter einen schönen Konferenzraum, sogar mit Eichenpaneelen. In dem ließ es sich viel bequemer debattieren. Jeder kannte die endlosen Sitzungen. Rauchen, Nicken, bedeutungsvoll Schweigen. Nicken. Rauchen. Nicken.
    Nun hieß es zur Begrüßung nicht wie üblich «liebe Genossen», sondern «meine Herren». Das schien noch

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