Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
ein paar Säcke Zement für den Anbau des Kinderzimmers zu ergattern, von ihm Hilfe zugesagt bekam, rieb man sich verwundert die Augen. Und doch war es so. Irgendwann fuhr auf seinem Hof der «Wolga» des Werkleiters vor, ein Mann mit Hut klingelte, und als die Frau samt Kindern öffnete, fragte der, wohin sie die Zementsäcke abladen sollten. Helmut, der Fahrer, übernahm das.
«Hier ist die Rechnung. Es wäre gut, wenn Ihr Mann die Summe in den kommenden Tagen bei der Hauptkasse begleicht. Und passen Sie gut auf die Kleinen auf, die werden im Werk bald gebraucht.» Schon rollte das Auto davon.
Nun saß diese junge Frau vor ihm und weinte. Mit einem großen Kerl, der tobte und schrie, wäre Lorenz schnell fertig. Aber diese Tränen machten ihn ratlos.
«Beruhigen Sie sich. So schlimm kann es doch gar nicht sein. Sagen Sie erst einmal, worum es geht. Wir finden sicher einen Weg.»
Rosmarie wischte über die verquollenen Augen. Zweimal hatte sie versucht, zu ihm vorzudringen. Zweimal scheiterte sie an dem Drachen im Vorzimmer. Groß, dunkelhaarig, herrisch, an dieser Sekretärin kam niemand vorbei. Eine «Politische» schon gar nicht. Woher sie das mit der «Politischen» wusste, blieb im Dunklen. Dass sie es wusste, stand fest. Die Frau setzte alles daran, ein Gespräch mit dem Chef zu verhindern. Nicht umsonst tuschelte man, dass sie nicht nur einem Arbeitgeber diene. Die Herrschaften von der «Firma» machten sich nicht einmal unsichtbar. Ganz offiziell hatte die Staatssicherheit im Verwaltungsgebäude unterm Dach ein eigenes Quartier. Und wann immer sie begehrten, einen Bericht zu schreiben, war die Sekretärin gefragt.
Doch auch diese Frau hatte einmal Urlaub. Im Vorzimmer des Werkleiters saß nun sein «ZBV». Der Mann «zur besonderen Verwendung», eine Mischung aus Bürovorsteher und Mädchen für alles, galt als gutmütig und verschwiegen. Er sah das Häufchen Elend an und verschwand sofort im Zimmer des Chefs. Eine Minute später hatte Rosmarie ihren Termin. Freitagnachmittag.
Jetzt wusste sie immer noch nicht, was sie sagen sollte, womit anfangen. Auf keinen Fall damit, dass sie in den Westen abhauen wollte. Dagegen war die Sache mit dem Wahlboykott eigentlich harmlos. Aber genau deshalb hatten sie ihr so eine reingewürgt. Begonnen hatte alles mit dem FDJ-Parlament in Rostock. Sie war FDJ-Sekretärin. Er war FDJ-Sekretär. Und es war seltsam, Kölleda liegt nicht weit von Sömmerda, aber sie begegneten sich an der Ostsee. Jeder hatte vier Backsteine im Rucksack, für die Mole des ersten Überseehafens der DDR. Keiner in ihrer Sparkasse wollte freiwillig nach Rostock, so blieb ihr nichts weiter übrig, als selbst zu fahren. Politik interessierte sie nicht, aber das mit dem FDJ-Sekretär, na ja, einer musste es ja machen.
Im Jahr darauf fuhren sie zusammen an die See, nicht mit der FDJ, mit ihrer Clique. Auf dem Rückweg machten sie einen Abstecher nach Westberlin. Schlafen konnten sie bei seiner Tante im Hansaviertel. Die Verwandten freuten sich über den Besuch, bleibt hier, sagten sie. Ein Funkmechaniker und eine Bankangestellte bekommen sofort Arbeit. Ihr werdet sehen, es dauert nicht lange, und ihr könnt euch ein Auto leisten. Als sie am Abend im Kino bei «Ben Hur» saßen, schien alles klar. Es gab nur noch eine kleine Hürde: Wie üblich in der DDR bekamen sie ihre Abschlüsse erst Ende August, sie mussten noch einmal nach Hause. Aber dann ein, zwei Monate Geld verdienen und ab in den Westen.
Zurück in Sömmerda, lief alles seinen gewohnten Gang. Ihr künftiger Mann wurde im Funkwerk Kölleda übernommen. Sie bekam eine Anstellung in der Sparkasse. Im September wurde er 18, und da sie nichts anderes hatte, machte sie ihm das denkbar schönste Geschenk. Im Oktober wusste sie, dass sie schwanger war. In dem Zustand konnte sie nicht weg. Auf den Tag neun Monate nach dem Geburtstag wurde ihr Sohn geboren. Noch ein paar Monate, dann würden sie packen. Es kam der 13. August. Ende aller Träume.
Das ganze Land einzusperren reichte nicht aus. Für den September wurde eine Wahl angesetzt, bei der das Volk mit einer 99-prozentigen Zustimmung die Mauer feiern sollte. Rosmarie beschloss: Das mache ich nicht mit. Und weil sie am Wahlsonntag von den Agitatoren nicht doch noch überzeugt werden wollte, sollte es am Morgen in den Thüringer Wald gehen, mit ihm. Doch seine Mutter bekam Wind davon. Sie besaß eine kleine Firma und knöpfte sich ihren Sohn vor:
«Du machst mir das Geschäft nicht
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