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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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merkwürdiger als der Ort der Versammlung. Von diesem «Herren» wehte es kalt aus den alten Zeiten herüber. Zeiten, in denen die Direktoren aus Düsseldorf kamen und das Werk kein «VEB», sondern ein Rheinmetall-Betrieb war. Und wie der Neue das «Herren» aussprach, kam er mit Sicherheit nicht aus Russland, auch nicht aus Thüringen. Der kam auch von drüben.
    Den «Herren» verging die Langeweile sofort. «Kurtchen» ließ sogar vor Aufregung seinen Zigarrenstummel in den Aschenbecher fallen. Er fühlte sich in jene Tage im Krieg versetzt, als er noch kein Direktor, sondern nur der Bürovorsteher eines Direktors war. Dank der Nähe zu Buchenwald und seinen billigen Arbeitskräften hatte sich das Werk zu einem der wichtigen Produzenten des Todes aufgebläht. Zünder für Bomben, Boden-Boden-Raketen, Maschinengewehre und sogar eine MPi mit krummem Lauf produzierten sie. Tausende russische, polnische, französische Zwangsarbeiter schufteten mit dem Rest an Deutschen für den Endsieg. Von damals wusste «Kurtchen», wie ein Direktor zu sein hatte. Das konnte man nicht kopieren, höchstens die Zigarre zwischen den Zähnen. Man wurde dazu geboren. Oder nicht. So viel Herablassung konnte keiner lernen.
    Als die Genossen später ihm und keinem anderen die Leitung des Werks antrugen, fühlte er sich geehrt. Doch mit der Zigarre allein war es nicht getan. Seine Bilanz las sich verheerend. Nun war er froh, dass ihn der Neue nicht vom Hof jagte. Sollte sich der doch abstrampeln. Es waren schon so viele gekommen und wieder gegangen, längst wusste man ihre Namen nicht mehr. Auch dieser würde sich bald an den Realitäten des sozialistischen Wirtschaftens die Hörner abstoßen. Wo an einem Tag die Schrauben, am nächsten die Muttern und am dritten Tag beides fehlte, da musste er schon hexen können, um aus dieser Malaise herauszukommen.
    Der neue Werkleiter riss «Kurtchen» aus seinen Betrachtungen, indem er seine Rede endlich fortsetzte.
    «Obwohl es um das Werk schlecht steht, sehr schlecht, wie Sie wissen – es sind fast 30 Millionen Mark Plan- und Finanzschulden aufgelaufen, wir sind nicht nur der größte Schuldner im Bezirk, sondern in der ganzen Republik –, habe ich nicht vor, jemanden allein dafür verantwortlich zu machen. Sagen wir es so: Sie haben sich verirrt, sind zweimal falsch abgebogen, und ich will helfen, dass Sie den Weg wiederfinden. Ich habe nicht vor, einen von Ihnen zu entlassen, vorausgesetzt, er arbeitet bedingungslos für unser gemeinsames Ziel. Tun Sie das nicht, dann kann auch ich Ihnen nicht helfen.»
    Erneut machte Lorenz eine Pause. Er wollte, dass ihr erstes Gespräch gut in Erinnerung haften blieb. Jedes Wort. Er hatte kaum geschlafen, und als ihn der Fahrer am Morgen um sechs Uhr mit dem «Wolga» in Gotha abholte, lief er schon auf Hochtouren. Wieder und wieder ging er seine kurze Ansprache durch. Die Stunde Fahrt von Gotha nach Sömmerda, durch den Wald über die Fahrner Höhen, ließ ihn die Sätze nochmals ordnen. Wusste er wirklich, worauf er sich da eingelassen hatte?
    Es war Ende August. Lena und die Kinder machten noch Ferien beim Großvater auf der Krim, da bestellten sie ihn nach Erfurt, in die Eislebener Straße. Dahin, wo die SED-Bezirksleitung residierte, dort, wo die örtliche Macht saß. Er hatte keine Ahnung, worum es ging. Hatte es vielleicht etwas mit dem Mauerbau zu tun? Das ganze Land war aufgewühlt. Parolen auf der einen, Gruselreportagen im Westfernsehen auf der anderen Seite. Lorenz hatte sich kaum geäußert, auch wenn er den Schritt als klares Eingeständnis der Schwäche empfand. Aber ihm war klar, wer jetzt auf Distanz ging, der wurde aussortiert. Wer die Mauer nicht gut fand, der war ein Verräter. Und was es hieß, ein Verräter zu sein, das wusste er nur zu gut. Sein Bedarf an weiteren Erklärungen war gedeckt.
    So fuhr er mit einem flauen Gefühl im Magen nach Erfurt, obwohl er sich keiner Schuld bewusst war. Aber auch das musste ja nichts bedeuten. Es war im Leben wie in der Fabel, das Zicklein konnte unmöglich den Wolf beim Trinken stören, er fraß es doch. Den «Ersten» Bezirkssekretär der SED – er hieß Alois und kam aus dem Böhmischen – hatte Lorenz bei einer «Auswertung» im Waggonbau kennengelernt. Das unausweichliche Trinkgelage der Funktionäre nach einem Rundgang durch die Produktionshallen hatte der Betrieb zu zahlen und gab dann den «teuren Gästen» auch noch Geschenke mit auf den Weg. Präsentkörbe, gefüllt mit Würsten und

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