Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
ungläubigen Grimasse.
«Doppelte Prämien? Das müsste ich wissen.»
Er schaute die Zahlenreihe an, las aufmerksam die danebenstehenden Namen, blätterte im Ordner ein paar Seiten weiter, dann wieder zurück und schüttelte den Kopf:
«Von doppelten Prämien sehe ich nichts.»
Der Minister bekam rote Flecken im Gesicht. Mit so viel Dreistigkeit hatte er nicht gerechnet. Er hatte schon einiges über diesen Mann gehört, von seinen ungewöhnlichen Methoden und der Beliebtheit, die er bei seinen Arbeitern genoss. Doch er hatte ihn für klüger gehalten. Sie hatten ihn überführt, und anstatt sich im Staub zu wälzen, tat er dumm und widersprach noch. Ein Verhalten, das förmlich nach Bestrafung schrie.
«Zeig es ihm!»
Der Mitarbeiter holte eine lange Liste hervor und legte sie für seinen Chef gut einsehbar auf den Tisch.
«Lieber Genosse Lochthofen, wie du unschwer erkennen kannst, stehen auf den Seiten dieselben Namen. Erst die Prämie Nummer eins, dann in diesem Ordner die Prämie Nummer zwei. Es geht hier nicht um Pfennige. Da sind es 300 und hier nochmals 300 Mark. Ich verstehe ja gut, dass dich die Arbeiter dafür lieben. Aber das ist ungesetzlich. Wenn es nur ein paar Fälle wären, ließe sich darüber reden, aber es sind Hunderte. Das sind Hunderttausende Mark. Ich bin nicht gewillt, einen solchen Bruch der sozialistischen Gesetzlichkeit zu tolerieren. Du wirst dich dafür vor der Partei verantworten müssen. Auch wenn es mir angesichts deiner Verdienste um das Werk schwerfällt. Gesetz ist Gesetz. Das gilt auch für einen Lochthofen.»
Der Minister drückte die Zigarette aus. Er lächelte. Lorenz senkte den Kopf über das Papier und schaute sich die Seiten in aller Ruhe an. Dann lächelte auch er.
«Ich glaube, ihr habt da etwas übersehen. Es gibt keine doppelten Prämien. Was es gibt, sind im Einzelfall begründete Sonderzahlungen. Nur der Werkleiter darf sie aussprechen. Und das habe ich getan.»
«Achthundert Sonderzahlungen, jede einzeln von dir begründet?»
«Ja. Jede einzelne begründet und von mir abgezeichnet. Ihr habt nur in die ersten beiden Ordner geschaut? Das tut mir leid. Ihr hättet auch in den dritten sehen müssen. Da sind die Durchschläge mit den Begründungen abgeheftet. Und wenn ihr die lest, dann stellt ihr fest, dass jede Sonderzahlung berechtigt ist. Keine Begründung gleicht der anderen. Ich denke, eine außerordentliche Leistung verlangt nach einer außerordentlichen Anerkennung. Die Russen sagen an dieser Stelle: Die gebende Hand darf nicht zittern.»
Er streckte seine rechte Hand aus:
«Seht ihr, sie zittert nicht.»
Schnell zog der Minister den dritten Ordner an sich und blätterte hastig die dünnen Seiten des Durchschlagpapiers um. Bereits nach den ersten drei Fällen, die er wahllos herausgriff, war ihm klar: Sehr wohl wurden zur Stimulierung der Leistung in Sömmerda doppelte Prämien gezahlt, nur konnte man daraus keinen Strick drehen. Jeder Antrag war knapp gehalten, aber immer individuell begründet. Da war nichts zu machen.
Der Minister stand auf, ließ die drei Ordner von seinen Mitarbeitern einpacken und verabschiedete sich kühl.
Lorenz blieb noch eine Weile in seinem Sessel sitzen, dann stand auch er auf und startete fröhlich, wie ihn sein Sekretariat in den vergangenen Tagen selten erlebt hatte, zu einem seiner geliebten Inspektionsgänge durch die Werkhallen.
II
Über ihre Wangen liefen dicke, heiße Tränen. Jetzt, wo sie endlich am Ziel war, wusste sie nicht mehr, was sie sagen sollte. Vor allem nicht, wie. Rosmarie versank in dem kalten Ledersessel. Ihr ölverschmierter Kittel, ihre alten Schuhe, alles passte nicht hierher. Nicht einmal die Haare hatte sie gekämmt. Sie hasste sich dafür, dass sie gerade in diesem Augenblick zu weinen anfing, während sie der Mann mit seinen neugierigen Augen anschaute und schwieg.
Doch jetzt war es zu spät. Ja, wie hatte die Sache angefangen? Auf diese einfache Frage brachte sie kein Wort heraus. Ohnehin wollte sie nicht glauben, dass so etwas möglich war. Sie , eine strafversetzte «Politische» aus der letzten dreckigen Ecke der Mechanischen, saß bei ihm , dem Chef über zehntausend Mann. Und er wollte wissen, wie er ihr helfen könne.
Als das Gerücht aufkam, dass der Neue für jedermann eine Sprechstunde eingeführt hatte, spotteten viele: Der verwechselt sein Büro wohl mit der Poliklinik. Als dann bekannt wurde, dass ein armer Teufel aus der Vorfertigung, der seit Monaten verzweifelt versuchte,
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