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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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kaputt!»
    Ihr war klar, geht der Sohn nicht zur Wahl, halten sich die «Organe» an die Mutter. Eine private Firma zu schließen war in jenen Tagen leichter, als einen Schnupfen zu bekommen. Er gestand ihr, dass ihn seine Mutter zum Wählen getrieben hatte. Nichts mit Boykott. Also würde sie auch gehen, am Sonnabend vorher. Doch als sie nach den Schalterstunden zum Rathaus eilte, schloss die Frau aus dem Sonderwahllokal vor ihrer Nase ab.
    «Zu spät!»
    «Aber ich fahre am Sonntag weg und muss doch …»
    «Da bleibt das Fräulein eben da. Ich muss jetzt zum Wahl-Meeting.»
    Rosmarie reagierte trotzig. Dann bleibt’s dabei, ich gehe nicht. Doch die geheime und freie Wahl war so geheim nicht. Am Montag wusste es jeder in der Sparkasse: Die «Giseken» hat nicht gewählt. Und das als FDJ-Sekretärin.
    Die Chefs rannten mit finsterem Gesicht an ihr vorbei, eine Sondersitzung folgte der nächsten. Erst die Partei, dann die Sparkassenleitung, schließlich die Gewerkschaft. Rosmarie wurde es mulmig. Aber immer noch sagte sie sich, was soll schon passieren? Deinen Abschluss hast du, überall suchen sie Arbeitskräfte.
    Zwei Wochen tagten sie, immer wieder musste sie sich verantworten, bis dann auf einer Belegschaftsversammlung, bei der keiner fehlen durfte, die Kündigung ausgesprochen wurde. Die Abrechnung mit ihr geriet zu einer Demonstration der Macht. Bis dahin wusste sie nicht, dass es so etwas wie Kündigung im Arbeiter-und-Bauern-Staat gab. Das Signal an die Mitarbeiter war eindeutig:
    «Seht her, so ergeht es jedem, der sich nicht fügt!»
    Die Wahl war am 17. September, am 2. Oktober, einem Montag, Punkt acht Uhr, sollte sie ihre Papiere holen. Um sechs Uhr klingelte es Sturm. Ein Mitarbeiter der Sparkasse. Die Genossen hatten vergessen, ihr den Schlüsselbund abzunehmen. Jetzt hatten sie Angst, sie könnte die Kasse noch schnell ausräumen. Als sie später im Direktorat vorsprach, war der Chef nicht allein, Partei- und FDJ-Sekretäre des Büromaschinenwerks schienen auf etwas zu warten. Unvermittelt bellte der Direktor los:
    «Sie brauchen sich nicht einzubilden, dass Sie mit Ihren Entlassungspapieren in der Deutschen Demokratischen Republik in Ihrem Beruf noch eine Anstellung finden. Wo Ihr Arbeitsplatz künftig sein wird, bestimmt einzig und allein die Partei!»
    Rosmarie schaute den sonst so netten Direktor fassungslos an.
    «Sie haben richtig verstanden. Die Genossen aus dem Büromaschinenwerk weisen Ihnen eine Arbeit zu.»
    Alles ging sehr schnell. Umrahmt von den beiden Männern, trottete sie wie eine Schwerverbrecherin ins Werk. In der Kaderabteilung empfingen sie neue Schimpftiraden.
    «Was glauben Sie, wer Sie sind?», ereiferte sich der Kaderchef. «Sie können froh sein, dass sich das Kollektiv des Werkes eines solchen Elements annimmt. Mit Ihrem Verhalten haben Sie der Sache der Arbeiterklasse schweren Schaden zugefügt. Sie haben dem Klassenfeind in die Hände gespielt. Aber damit ist jetzt Schluss!»
    Der hat doch nicht alle Tassen im Schrank; was ist das für eine große Sache, wenn ein fehlender Wahlzettel sie so erschüttern kann?, dachte sie. Aber zu widersprechen, das wagte sie nicht.
    «Sie gehen in die Gewindeschneiderei. Drei Schichten, da wird Ihnen die Lust am Provozieren vergehen.»
    Das hieß, Maschinenarbeiter im untersten Lohnbereich; als sie dann etwas sagte, war es leise und kaum zu hören:
    «Das geht nicht. Ich habe ein kleines Kind.»
    «Das hätten Sie sich früher überlegen müssen.»
    Alles, was sie bis dahin von diesem Staat kannte, galt auf einmal nicht mehr. Und das betraf nicht nur sie, sondern auch ihren kleinen Sohn. Sie konnte jetzt jeden verstehen, der in den Westen abgehauen war, nicht nur, weil er ein Auto haben wollte.
    Ein Mitarbeiter brachte sie zu ihrem Arbeitsplatz. Sie kannte die Halle. Am anderen Ende arbeitete ihre Mutter. Sie hoffte inständig, dass sie sich nicht begegneten. Ihre Maschine stand in der dreckigsten Ecke. Überall stapelten sich Kisten mit Rohlingen. Es roch nach Fett und verglühten Metallspänen. Von jetzt an sollte sie nur ein Gedanke beherrschen: Wie komme ich hier raus?
    Die meisten Frauen hier hatten nichts gelernt und erwarteten vom Leben nichts mehr. Dass ein «Fräulein aus der Sparkasse» bei ihnen landete, gab guten Stoff für einen Mehrere-Tage-Tratsch. Schnell war man sich einig, das konnte nur einen Grund haben: Die hat in die Kasse gegriffen. Ob dieses Gerücht in der Halle entstand oder von oben eingetröpfelt wurde,

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