Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
Konzentrationslagern interniert. Der Dichter Ossip Mandelstam stirbt in einem sibirischen Lager. Die Rundfunkausstrahlung des Hörspiels «Krieg der Welten» von Orson Welles löst eine Massenpanik in New Jersey (USA) aus.

1938

I
    Der weiße Dampfer wechselte dröhnend auf die andere Seite der Wolga, einen fetten Schweif Ruß hinter sich herziehend. Die kalte Luft prickelte auf der Haut. Lorenz atmete tief. Die unerwartete Weite des Flusses verursachte nach den langen Wochen des Eingepferchtseins ein leichtes Rauschgefühl. Er suchte jede noch so winzige Einzelheit der Flusslandschaft mit seinem Blick einzufangen. Eine rostige Barke, beladen mit Sand, kreuzte ungerührt von den röhrenden Warnsignalen der Sirene und dem lauten Fluchen des Kapitäns den Kurs des Dampfers. Die Frau des Skippers hatte eine Leine mit frischgewaschener Wäsche vom Bug bis zum Heck des Kahns gespannt, Unterhosen und Hemden wehten im Wind wie die Fähnchen einer Regatta. Weiter stromabwärts glitt kaum merklich ein endlos langes Floß aus den Wäldern des Nordens in Richtung Süden. Die beiden Flößer saßen reglos vor ihrer Laubhütte um die Kochstelle herum, von der ein dünner Streifen weißen Rauches aufstieg. Ein einsamer Fischer trieb mit einem Holzboot langsam am Dampfer vorbei, den starren Blick auf die Gewehre der Wachleute gerichtet. Er wusste, was das für ein Transport war. Am Horizont verschmolzen die sich träge dahinwälzenden Wassermassen, das gegenüberliegende Ufer und der tiefe Himmel zu einem dünnen Streifen. Nirgendwo spürte man die einsamen Weiten dieses endlosen Landes so sehr wie auf seinen Flüssen. Wo die Zeit ihr eigenes Maß hat und der Mensch so klein und verloren ist wie am ersten Tag.
    Lorenz lehnte neben der Tür zum Maschinenraum und spürte, wie die Kälte trotz der Jacke immer tiefer in ihn hineinkroch. Den zerkratzten rotbraunen Pappkoffer, in dem sich die verbliebenen Habseligkeiten befanden, drückte er mit einem Bein an die Bordwand. Das Zittern des Antriebs ließ den Schiffskörper vibrieren und übertrug sich auch auf ihn. Genussvoll zog er den Rauch einer Papirossa in sich hinein. Ob er diese Art Zigaretten mochte, konnte er nicht sagen, es gab keine anderen. Eine Papierhülse mit Pappmundstück, zur Hälfte gefüllt mit grobem Tabak. Der Maschinist hatte ihm im Vorbeigehen eine fast volle Schachtel zugesteckt, ohne den Dank abzuwarten. Mitleid mit Gefangenen, das war gefährlich.
    Lorenz knickte das Mundstück in landesüblicher Weise zwischen Daumen und Zeigefinger. Jemand hatte behauptet, so bliebe mehr Nikotin am Papier haften. Das Etikett zeigte auf grauweißem Grund eine blaue Sonne, die strahlend über einer Schneelandschaft unterging. Oder sollte es doch eher ein Sonnenaufgang sein? Es waren Papirossy der Marke «Sewer». Das hieß «Norden».
    «Sewer?» In Gedanken wiederholte er das Wort. Ob das ein Zufall war? Oder ein Zeichen? Sollte damit bereits die Richtung vorgegeben sein, der er auf seinem Weg durch Gefängnisse und Lager folgen würde? Alles könnte sich doch noch als Irrtum erweisen, noch war der Gedanke in ihm nicht erloschen. Aber im tiefsten Inneren spürte er längst eine Beklemmung, die ihn an einem glücklichen Ausgang zweifeln ließ.
    «Sewer». Immerhin, es war keine «Belomorkanal», der Name einer anderen gängigen Zigarettensorte. Er gehörte zu jenen speziellen Abkürzungen, die nach der Revolution in Mode gekommen waren und die Sprache immer mehr verunstalteten. Es wimmelte im Alltag nur so davon. «Belomorkanal» stand für «Weißmeerkanal», den ersten Großbau des Kommunismus. Das mit enormem Propagandawirbel begleitete Projekt einer Wasserstraße zwischen Ostsee und Weißem Meer kostete Tausenden Gefangenen das Leben. Da es dem Land an Technik mangelte, wurde die Strecke über viele Kilometer mit Schaufel und Hacke ausgehoben. Freiwillig meldete sich kein Mensch zu dieser Schinderei. Verdienen konnte man hier nichts, nur die Gesundheit, wenn nicht das Leben verlieren. So fing die Staatsmacht die Menschen, je nach Bedarf, auf den Straßen des Riesenreichs weg und verurteilte sie zu Zwangsarbeit. Am Anfang folgten die Verhaftungen noch einem gewissen Raster. Doch schon bald stellte sich heraus, dass es allein mit vorbestraften Dieben, Obdachlosen und Prostituierten nichts werden konnte. Der Griff musste in die Breite gehen. Zehntausende wurden nun zu Feinden der neuen Ordnung erklärt und füllten als Trotzkisten oder Volksschädlinge die Arbeitskolonnen. Wer

Weitere Kostenlose Bücher