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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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sich das Eisentor. Der Laster holperte auf die von Regen und nassem Schnee in einen Sumpf verwandelte Straße hinunter zum Fluss.
    Von der anderen Seite kam eine Frau mit weißem Kopftuch, Wattejacke und verschlammten Stiefeln schreiend herübergerannt.
    «Aljoscha!?» In ihrer Stimme mischten sich Hoffnung und Verzweiflung.
    Der blonde Bauernbursche auf der Holzbank neben Lorenz, keine zwanzig Jahre alt, zuckte zusammen und warf sich mit einem Satz zur hinteren Bordwand, wo die Plane eingerollt blieb und man den Himmel und die Straße sehen konnte. Einer der Bewacher hielt ihn mit dem Gewehrlauf zurück.
    «Mama», flüsterte der Junge.
    Die Frau blieb mitten auf der Straße im Morast stehen und schaute dem Lastwagen nach. Noch einmal hörte man sie «Aljoscha» rufen. Dieses Mal leiser.
    «Mama», erwiderte der Sohn tonlos. Dann schrie er: «Mama! Ich bin hier!»
    Ein Ruck ging durch ihren Körper. Sie rannte. Rannte. Rannte verzweifelt dem Lastwagen hinterher. Doch mit den Stiefeln kam sie kaum voran und blieb immer weiter zurück. Ihre Aljoscha-Rufe wurden leiser und leiser. Noch einen Moment konnte man sie an einem Telegrafenmast stehen sehen, dann bog der Lastwagen ab.
    Der Junge verharrte am Ende der Ladefläche, bis ihn ein heftiges Rucken des Lastwagens zur Seite unter die Füße des zweiten Wachmanns warf. Der schaute ihn an, sagte aber nichts. Aljoscha kroch zu seinem Platz und begrub das Gesicht in den Händen. Lorenz hörte das Weinen.
    Die Geschichte des Jungen war so einfach wie grausam. Mehrfach hatte er sie während der gemeinsamen Haft erzählt. Er stammte aus einem Dorf südlich von Engels. Eigentlich wollten die NKWD-Leute nicht ihn, sondern seinen Vater holen. Der hieß wie er Alexej und für Freunde und Verwandte eben Aljoscha. Ungewöhnlich war das nicht, der Erstgeborene wurde oft nach dem Vater benannt: Iwan Iwanowitsch oder Alexej Alexejewitsch. Da der alte Bauer nicht zu Hause war – er hatte auf einem fernen Schlag des Kolchos zu tun und übernachtete im Feldlager –, suchte sich das Kommando ein anderes Opfer. Und wenn es der Sohn des vermeintlichen Schädlings war und der auch noch den gleichen Namen trug, um so besser. Da mussten die Papiere nicht einmal umgeschrieben werden.
    Der NKWD hatte einen straffen Plan. Nur seine bedingungslose Erfüllung schützte all jene, die Teil der Terrormaschinerie waren, davor, selbst von ihr erfasst zu werden. Und auch das klappte nicht immer. Regelmäßig entledigte man sich der Mittäter und Zeugen, vom kleinsten Muschkoten bis zum Chef des Geheimdienstes im fernen Moskau. Als Genrich Jagoda, lange Zeit Stalins Mann fürs Grobe, nicht mehr genug Sklaven für den kommunistischen Aufbau liefern konnte, wurde er erschossen. Als sein Nachfolger, Nikolai Jeschow, Hunderttausende zu viel verhaften ließ und viele von ihnen in überfüllten Gefängnissen oder auf dem Transport in die Lager starben, ohne je ihren Sklavendienst angetreten zu haben, geschah mit ihm das Gleiche. Aljoschas Schicksal war kein Irrtum. Nur logische Konsequenz.
     
    Die Sirene des Dampfers dröhnte ein letztes Mal über das Wasser, dann legte das Schiff ruppig auf der Saratower Seite an. Im Gänsemarsch gingen die Gefangenen von Bord. Vorbei an der Bretterbude, die großspurig Flussbahnhof hieß. Hier saßen auf den Holzbänken eingemummte Menschen mit Säcken, Eimern, zusammengeschnürten Hühnern und Enten, in der Hoffnung, dass eines der vorüberkommenden Schiffe sie mitnehmen würde. Ein paar Schritte weiter wartete bereits das Lastauto mit der Aufschrift «Brot» auf seine menschliche Ladung.
    Das zweite Gefängnis, in das Lorenz kam, schien in Größe und Bedeutung der Gebietshauptstadt angemessen: ein gewaltiger Gebäudekomplex, umgeben von einem Bretterzaun, verziert mit mehreren Reihen Stacheldraht, an den Ecken bewehrt mit hohen Wachtürmen und deren gnadenlosen Suchscheinwerfern.
    Im «Empfangsraum» wurden den Gefangenen Schnürsenkel, Gürtel und all die andern laut «Hausordnung» verbotenen Gegenstände wieder abgenommen. Wer bis dahin noch seinen Haarschopf hatte, bekam jetzt eine Glatze rasiert. Mörder, Politische, jetzt sahen sie alle gleich aus. Gezeichnet und ausgestoßen.
    Seiner Verzweiflung auf die Nachricht über den Tod von Larissa folgte die Leere. Das Leben erschien nicht mehr weit und offen wie der Himmel an einem Tag im Frühling, sondern nur noch als Abfolge von Grausamkeiten, deren Ende nicht abzusehen war. Er wollte nur noch weg aus Engels. Egal

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