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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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schwarzem Stoff bedeckt. Eine einsame Glühlampe hing von der schwarz gestrichenen Decke. In deren Lichtkegel saß ein alter Bekannter: Schrottkin, in eine schwarze Uniform gekleidet. Hinter ihm Hofer und vier Uniformierte, ebenfalls in Schwarz. Jeder trug eine Pistole am Gürtel. Es konnte keinen Zweifel geben: Das war das Exekutionskommando.
    Der Wachsoldat führte Lorenz zum Tisch, drückte ihn auf den Stuhl, meldete seinen Namen und ging. Die Eisentür schlug zu. Niemand sagte etwas, niemand fragte etwas, es herrschte absolute Stille. Schrottkin schien zu einer schwarzen Sphinx erstarrt. Dann schlug er eine schwarze Mappe auf und legte ein Blatt Papier auf den Tisch. Das unschuldige Weiß des Papiers ließ den Raum erst recht unwirklich erscheinen. Noch in der Bewegung konnte Lorenz erkennen, dass auf dem Blatt nur wenige Zeilen standen. Ein Todesurteil war sicher kurz gefasst.
    Wie erstaunt war er, als er nach einem Blick auf den Text feststellte, nein, von Erschießen war hier nirgends die Rede. Neben seinen persönlichen Daten, Name, Geburtsort und -datum, Beruf und Adresse, standen wenige dürre Zeilen, die ihm Hofer übersetzte:
    «… ist aufgrund der dem NKWD der Wolgadeutschen Republik vorliegenden Materialien entsprechend der im §   205 festgelegten Bestimmungen rechtskräftig verurteilt worden.» Unterschrift: «Hauptmann Schrottkin, Leiter der Operativgruppe, bestätigt von …» – es folgte ein nicht näher zu bestimmender Krakel – «stellv. Staatsanwalt für Spezialaufgaben».
    Das bedeutete noch keine Entwarnung, aber irgendetwas in Lorenz’ Innerem sagte ihm in alter Sturheit: Unterschreib nicht.
    «Genosse Leutnant», wandte er sich an Hofer, «es ist mir leider entfallen, bitte sagen Sie mir, was steht in Paragraph 205?»
    Schrottkin reagierte auf die Übersetzung der Frage, wie Schrottkin immer reagierte: Er explodierte. Er riss das Papier an sich und zeigte dem Deutschen mit den Fingern der rechten Hand das, was man in Russland einen «Kukisch» und in Deutschland eine Feige nennt. Dann folgte eine seiner üblichen Tiraden. Er werde es dem Herrn Redakteur schon heimzahlen, dass seine Kinder und Kindeskinder noch daran denken würden.
    Als er sich abreagiert hatte, befahl er, den Häftling wegzubringen. Lorenz stand tastend auf, er konnte es nicht fassen, lebend diesem schwarzen Loch zu entkommen. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, das Hemd klebte schweißnass am Körper. Mit diesem Schmierentheater hätten sie ihn fast umgebracht.
    Für den Rückweg brauchte es nur einen Wächter. Sie waren schon einige Schritte gegangen, da hörte Lorenz ihn fluchen:
    «Diese Hurensöhne!»
    Er drehte sich um und erkannte in dem Mann einen Nachbarn. Er wohnte im selben Haus wie er, nur einen Eingang weiter. Lorenz hatte ihm vor Monaten beim Umzug geholfen, erst trugen sie gemeinsam ein schweres Bett, danach einen noch viel schwereren Schrank. Dann holte der Bursche ein Fläschlein Wodka, um die Arbeit zu begießen. Dann gingen sie zu Lorenz hinüber, der einen herrlichen Hering als Sakuska hatte. Dann kam noch ein Nachbar dazu, der Selbstgebrannten mitbrachte. Kurzum, es wurde ein schöner Abend.
    Dass der Nachbar bei der Miliz war, wusste Lorenz. Dass er in diesen Kellern seinen Dienst verrichtete, nicht. Der Milizionär fluchte weiter, aber man merkte, dass es nur Ablenkung sein sollte. Offensichtlich wollte er etwas sagen, wusste aber nicht, wie er es anfangen sollte.
    «Deine Frau haben sie auch. Sie haben sie ein paar Wochen später geholt.»
    Er stockte. Also doch, Schrottkin hatte nicht geblufft. Lorenz wurde übel. Er stützte sich einen Moment an der Mauer.
    «Wie geht es ihr? Und was ist mit den Kindern? Was ist mit Larissa?»
    «Die Große ist im Waisenhaus. Wohin sie deine Frau gebracht haben, weiß ich nicht. Aber das Mädchen … Die Kleine ist tot … Im Gefängnis gestorben.»

Das Jahr 1938:

    Lorenz Lochthofen als Redakteur der deutschsprachigen Zeitung «Nachrichten» in Engels an der Wolga.

Thomas Mann trifft im amerikanischen Exil ein. Das Rechtsfahrgebot auf der Straße wird verbindlich. Deutschland annektiert Österreich. Nach dem 3. Moskauer Schauprozess werden die letzten von Lenin im «Testament» positiv erwähnten Funktionäre, Bucharin und Rykow, erschossen. Das Münchner Abkommen zwingt die Tschechoslowakei, das Sudetenland an Deutschland abzutreten. Während der Reichspogromnacht brennen die Synagogen, mehrere hundert Juden werden ermordet, über 30   000 in

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