Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
die zwei, drei Jahre überlebte, hatte Glück.
Es war der erste große und gezielte Einsatz von Sklavenarbeit zum Aufbau der neuen und gerechteren Gesellschaftsordnung. «Der Bärtige», wie Stalin im Volksmund hieß, war von der neuen Methode begeistert. Ab sofort gehörten Zwangsarbeiter zu jedem Großprojekt. Und von denen gab es immer mehr. Der NKWD lieferte.
Merkwürdigerweise schadete das Blut der Toten der Zigarettenmarke «Belomorkanal» nicht. Das Land rauchte sie fröhlich weiter. Denn Papphülsenzigaretten waren nicht nur etwas für arme Leute, auch die Nomenklatura, die politische Oberschicht des Landes, griff nach ihr mit Begeisterung. Die NKWD-Leute schätzten «Kasbek», benannt nach einem der Gipfel des Kaukasus. Selbst Stalin hatte eine Vorliebe für Papirossy. Jeder im Land wusste, dass er die vornehme Marke «Gerzegowyna Flor» bevorzugte. Allerdings pflegte er den Tabak in seine Pfeife zu stopfen.
Der Tabakdunst verwirbelte sich im Wind. Lorenz stand nicht zum ersten Mal rauchend auf den Planken dieses Dampfers. Es war kein gewöhnliches Schiff. Es war der offizielle Regierungskutter der Wolgadeutschen Republik, und er war früher bei Dienstfahrten oft mehrere Tage auf ihm unterwegs, meist mit Friedrich Wolf während ihrer ausgedehnten Reportagereisen. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, dass dieses Schiff auch für ganz andere Transporte genutzt wurde. Die unbeschwerten Stunden an Bord, bei Wodka und gutem Essen, erschienen ihm plötzlich als falsches Spiel. Das Schiff verwandelte sich vom weißen Dampfer seiner Sehnsüchte, der den Helden eines Abenteuerromans in eine aufregende Zukunft trug, in einen heruntergekommenen, schmuddeligen Kahn. Unter der in mehreren Schichten aufgetragenen weißen Farbe, die dem Dampfer von weitem einen Hauch Leichtigkeit und Süden verlieh, fraß sich überall der Rost hindurch. Fast schien es, dass nur der dicke Anstrich das Schiff noch zusammenhielt und irgendwo in der Mitte des Stroms ohnehin alles vorbei sein würde. Der Gedanke wirkte beruhigend auf Lorenz.
Er blickte zurück zum östlichen Ufer. Die Umrisse der Stadt wurden unscharf. Ehe man sie am Morgen auf dem Hof des Gefängnisses zur Kolonne zusammenschrie, hatten sie ihre Sachen zurückbekommen. Zumindest das, was davon übrig war. Wie befürchtet, fehlten in der Brieftasche mehrere Scheine, im Koffer ein Paar feste Schuhe und, was viel schlimmer war: der dicke Wollpullover. Den hatte Lotte gestrickt, es war ihr Geschenk zu seinem Dreißigsten. Der Winter packte von Tag zu Tag kräftiger zu, und niemand konnte sagen, wie lange das alles dauern würde. Ohne warme Kleidung wartete da draußen nur der Tod.
Der Sergeant in der Kleiderkammer des Gefängnisses nahm seine Beschwerde regungslos zur Kenntnis. Er holte ein Blatt Papier, vermerkte die fehlenden Sachen, rührte mit einem Holzfederhalter in einem Tintenfass, unterschrieb krakelnd, hauchte mehrfach auf einen Stempel, den er aus dem Schubfach seines Schreibtischs gefischt hatte, drückte sorgfältig das Emblem mit Hammer und Sichel in die Ecke und händigte den Wisch dem verdutzten Gefangenen aus.
«Hier ist noch nie etwas weggekommen», murmelte er. In seinen Augen spiegelte sich der blanke Hohn. «Heben Sie das Papier nur gut auf. Falls sich die Sachen anfinden, bekommen Sie selbstverständlich alles zurück.»
Dann winkte er den Nächsten heran und belegte ihn, noch ehe der etwas sagen konnte, mit einem Fluch.
«Diese Hurensöhne, was denn, fehlt schon wieder was? Wozu braucht ihr überhaupt den Plunder? Mancher ist hier ausgestattet wie ein Bourgeois, mit Zahnbürste und Seife. Ihr denkt wohl immer noch, ihr seid im Sanatorium? Aber das werden sie euch in Saratow schon austreiben.»
Und er fuhr fort, jeden, der da kam, zu beschimpfen. Das laute Geschrei sollte davon ablenken, wie ungeniert die Gefangenen bestohlen wurden. Dieses amtlich sanktionierte Plündern bedeutete für das Personal eine sichere Einnahmequelle, vergleichbar dem Trinkgeld in einer Kneipe. Die Prozedur hielt den Abmarsch der Kolonne dermaßen auf, dass die Begleitposten nervös wurden. Der Dampfer war extra von Saratow hinüber nach Engels geschickt worden, um die Gefangenen abzuholen. Wenn er sich bei der Rückfahrt verspätete, gab es Ärger. Da der Zug der Häftlinge durch die Stadt zu viel Aufmerksamkeit erregt hätte, karrte man einen Lastwagen heran und befahl den Männern, eilig aufzusitzen. Zuletzt stiegen zwei bewaffnete Soldaten zu, dann öffnete
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