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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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Quälerei? Schreiben Sie doch, ich habe Ihre Frau erschlagen.»
    «Meine Frau? Das wird uns, verdammt noch mal, niemand glauben», erwiderte der Hauptmann und ließ ihn von einem Wachsoldaten wieder aufrichten.
    «Und wer glaubt Ihnen all den anderen Unsinn? Dass ich für den Imperialismus agitiert habe oder die Sowjetmacht stürzen wollte? Wer kann das glauben?»
    Schrottkin ließ sich nicht beeindrucken.
    «Haben Sie nicht lauthals erzählt, dass die Straßen in Deutschland viel besser seien als die in der Sowjetunion? Ist das vielleicht nichts? Ist das vielleicht keine Agitation für den Feind? Willst du das etwa leugnen?»
    Lorenz öffnete mit Mühe die Augen, ganz nahe über sich sah er das triumphierende Grinsen des NKWD-Manns. Kein Zweifel, Schrottkin glaubte sich am Ziel.
    Straßen? Agitation für den Imperialismus? Was war das schon wieder für ein Unfug? Mühsam versuchte Lorenz, sich zu konzentrieren. Dann fiel ihm etwas ein. Sie mussten die Redaktion durchkämmt haben und auf den Volontär gestoßen sein. Oder war der ein Zuträger? Unwichtig. Es war sicherlich schon Oktober. Tagelang hatte es geregnet. Sie standen in seinem Arbeitszimmer im oberen Stock der Redaktion und blickten auf den Platz, der sich vor ihnen öffnete und im Morast versank. Er und der junge Bursche, den die Jugendorganisation Komsomol in die Redaktion delegiert hatte, damit aus ihm ein treuer Parteijournalist werde. Mitten auf dem Platz lag ein LKW fest. Vergeblich versuchte der Fahrer, das Gefährt herauszumanövrieren. Sein Begleiter hatte Äste und Bretter aus den Höfen ringsum zusammengeholt und schob sie unter die Antriebsräder. Aber die verschwanden einfach in der Pampe. Der arme Mann war bereits von oben bis unten mit Schlamm beschmiert.
    Der Volontär schaute vielsagend zu Lorenz:
    «Solche Straßen gibt es in Deutschland bestimmt nicht?»
    «Nein», antwortete Lorenz. «Die gibt es wirklich nicht. Deutschland ist nicht so reich, sich solche Straßen leisten zu können.»
    Er setzte sich an die Schreibmaschine, um eine Satire über den Zustand des Platzes zu verfassen, die tags darauf in der Zeitung erscheinen sollte, Überschrift: «Die Badesaison des Stadtsowjets». Offensichtlich musste er damit jemanden verärgert haben. Nun also die Rache. Vielleicht war das ja der Grund, dass sie ihn abgeholt hatten.
    Schrottkin erkundigte sich noch nach einigen Details des Gesprächs, dann ließ er, mit sich zufrieden, den Protokollanten einen Schriftsatz in Russisch vorlegen. Lorenz nahm den Federhalter, tauchte die Feder in das Fass mit der violetten Tinte – ganz Russland, vom Schulanfänger bis zum Minister, schrieb in dieser einen Farbe –, suchte nach dem freien Platz für seinen Namen, dachte einen langen Moment nach und legte das Schreibgerät wieder auf den Tisch.
    Schrottkin schaute Hofer an, dann Lorenz, dann das Papier, dann wieder Hofer.
    «Unterschreib!», zischte er.
    Er hatte ihn endgültig satt, diesen deutschen «Intelligentik» mit seinen Spitzfindigkeiten, all diesen Sprachverwirrungen, diesem dämlichen, verständnislos dreinblickenden Gesicht. Er ging um den Schreibtisch, riss den Gefangenen am Hemdkragen hoch und holte aus. Doch Lorenz wartete nicht, bis der Schlag auf ihn herunterging. Die Erschöpfung der schlaflosen Tage und Nächte war verflogen. Mit einem Ruck riss er sich los, machte einen Satz zur Seite und fasste den Holzschemel des Protokollanten, der gerade zum Rauchen den Raum verlassen hatte.
    «Wenn Sie mich nur mit einem Finger anrühren», brüllte er, «schlage ich das Fenster ein und schreie den Menschen auf der Straße zu, was Sie hier treiben!»
    Der Untersuchungsführer verharrte einen Augenblick, überlegte, ob so ein Tumult unter Umständen ein Risiko bedeutete. An sich war es dem NKWD egal, ob da draußen einer etwas hörte oder nicht, etwas zu sagen, das traute sich ohnehin niemand. Andererseits, wenn der Oberst gerade das Haus verließ oder ein Genosse von der Stadtparteileitung im Anmarsch war, gab es Ärger. Dann hieß es schnell, man verletze die revolutionäre Wachsamkeit. Und ein Genosse, der das nicht verstand, war fehl am Platze. Schlimmer noch, ab und zu erfasste die Vorgesetzten eine Art Wahn. Ja, Wahnsinn, denn anders konnte er das nicht nennen, dann schnappten sie einen oder auch zwei der Ihren, und ab ging’s nach Sibirien. An den Kolyma-Fluss oder weiß der Teufel wohin. Und was die Gefangenen mit einem NKWD-Mann machten, wenn er im Lager enttarnt wurde, das wusste

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