Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
wohin.
    Leutnant Hofer frohlockte. Der Widerstand des Deutschen war gebrochen, der Hungerstreik beendet. Lorenz setzte seine Unterschrift unter genau jenes Blatt Papier, das ihm bereits Schrottkin im «Schwarzen Kabinett» vorgelegt hatte. Nur der Verweis auf den §   205 war mit dem Messer herausgekratzt. Kein Gericht der Welt würde je einen solchen Wisch als Schuldgeständnis anerkennen.
    Zwei Tage war das jetzt her. Nun folgte Lorenz wieder einem Wachmann, Treppe rauf, Treppe runter, durch düstere Korridore, bis sie vor einer Tür stehen blieben. Der Mann klapperte lange mit den Schlüsseln, endlich hatte er den richtigen. Lorenz war angekommen. Er betrat eine geräumige Zelle, in der allenfalls zehn oder zwölf Gefangene, keineswegs beengt, saßen. Allein das konnte einen schon verwundern. Erst recht der Umstand, dass auf dem Tisch in der Mitte des Raums mehrere Weißbrote lagen. Weißbrot hatte er seit einer Ewigkeit nicht gesehen. Das geöffnete Glas mit Butterschmalz und ein kilogrammschweres Stück Wurst vervollständigten ein unwirkliches Bild. Lorenz konnte seinen Blick nicht davon lösen. Auf alles schien er vorbereitet: auf einen nassen Keller, auf Dutzende Menschen in engster Zelle, auf Isolationshaft, endlose Verhöre, auf Schläge und Folter. Reichlich zu essen, das lag außerhalb aller Vorstellungskraft. Ganz zu schweigen davon, dass der Überfluss die anderen ganz und gar ungerührt ließ.
    Die Mitgefangenen nahmen von dem Neuen nicht die geringste Notiz. Einige lagen sogar angezogen auf ihren Pritschen. Noch eine Merkwürdigkeit. Das Liegen auf den Nary am Tag war strengstens verboten. Es drohten drakonische Strafen. Wer erwischt wurde, bekam die Essensration gekürzt. Ziemlich das Schlimmste, was man sich denken konnte. Auch wenn die Mahlzeit nur aus einer Schüssel Balanda – einer dünnen Kohl- oder Graupensuppe – und einem Kanten Schwarzbrot bestand. Doch hier lagen die feinsten, für ein sowjetisches Gefängnis unvorstellbaren Speisen, und keiner rührte sie an. Das sollte einer verstehen.
    «Ah, ein Neuer! Komm, leg deine Sachen auf die Liege da drüben», begrüßte ihn schließlich ein älterer Mann.
    Er saß auf einem Hocker am Tisch und sah wie einer jener Mennoniten aus, denen Lorenz auf seinen Reisen entlang der Wolga immer wieder begegnete. Aus Glaubensgründen hatten sie Preußen vor langer Zeit verlassen und in den Weiten Russlands eine neue Heimat gefunden. Doch wer keine Staatsmacht über sich duldete und den Dienst in der Armee verweigerte, der passte nicht in die neue Zeit. Die Mennoniten flohen entweder aus der Sowjetunion, oder sie besiedelten das weit verzweigte Inselreich des Gulag.
    Gulag, das war wieder eines dieser neuen Krüppel-Wörter, die Lorenz nicht mochte, zusammengesetzt aus den Anfangsbuchstaben von «Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij», was mit «Hauptverwaltung der Besserungsarbeitslager und Kolonien» übersetzt wurde. Längst hatte sich Gulag als Synonym für Tod und Terror verselbständigt.
    «Der Platz ist gestern frei geworden.»
    Der Alte sah den ungläubigen Blick des Neuen angesichts der Schätze auf dem Tisch.
    «Du kannst dir ruhig was schmieren. Es ist genug da. Wenn wir mehr brauchen, geben sie uns mehr. Lang zu, zier dich nicht.»
    Lorenz schob seine Sachen unter die Pritsche, setzte sich an den Tisch und strich ein großes Stück Weißbrot fingerdick mit Butter ein. Nachdem er die dritte Scheibe Brot runtergeschlungen hatte, ging er zur Wurst über. Draußen im Land hieß diese Sorte Doktorskaja. Was sie mit einem «Doktor» zu tun hatte, war nicht ganz klar, so wandelte sich ihr Name allmählich in «Hundefreude». Irgendwie erinnerte sie ihn jetzt an die Wurst daheim in Westfalen. Langsam ließ das seit Wochen anhaltende Hungergefühl nach. Er hielt einen Moment mit vollem Mund inne und sah sich erneut ungläubig um. Litt er unter Halluzinationen? Nach dem Hunger der vergangenen Wochen und Monate wäre das nicht undenkbar. Oder sollte es im Saratower Gefängnis anders zugehen als in Engels?
    Ihm gegenüber spielten zwei Männer in einer Ecke verbissen Karten. Die Blätter klatschten auf den Schemel. Offensichtlich war es Durak, Dummkopf, das am weitesten verbreitete Spiel in Russland. Was die Spieler jedoch in der Hand hielten, das waren nicht die üblichen, hinter Gittern aus Kartonresten hergestellten Karten. Nein, ein echtes französisches Blatt, wie man es draußen in der Freiheit hatte, auf den Hinterhöfen

Weitere Kostenlose Bücher