Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
Vom Netzwerk:
Lampen wieder zum Leuchten brachte, wusste es Kruglow ganz genau, er war auf eine Goldader gestoßen. Lorenz hatte eine verschrottete Vakuumpumpe wieder funktionstüchtig gemacht. Nun konnten sie gegen Rubel und Wodka all die Lampen reparieren, an denen es im immer dunklen Norden so mangelte.

Das Jahr 1939:

    Wachturm und Wohnbaracken in Workuta, Aufnahme aus den dreißiger Jahren. © picture-alliance/akg-images/RIA Nowosti.

Hitler kündigt die Vernichtung der «jüdischen Rasse» an. Während der «Großen Säuberung» (1936   –   1939) werden in der Sowjetunion über zwei Millionen Menschen ermordet. Pius   XII. wird Papst. General Franco erobert Madrid. Nach Angaben der Gestapo sind in deutschen KZ mehr als 300   000 Gefangene inhaftiert. Deutschland und die Sowjetunion schließen den Hitler-Stalin-Pakt. Mit dem Überfall auf Polen beginnt Deutschland den Zweiten Weltkrieg. Russische Truppen marschieren in Ostpolen ein. Das erste Düsenflugzeug, eine Heinkel He 178, hebt ab. Hitler entgeht knapp einem Attentat im Bürgerbräukeller in München. Tausende Bilder werden in Berlin als «entartete Kunst» verbrannt. Mit einer Armeeoffensive beginnt die Sowjetunion den Krieg gegen Finnland.

1939

I
    Der Fluss stöhnte, als hätte ihm der Winter den Eispanzer zu knapp geschneidert. Endlich konnte er sich davon befreien. Wie eine Schlange die alte Haut schälte er die Kruste ab. Über den ersten offenen Wasserflächen stieg Dunst auf. Überall knirschte und knackte es. Immer neue Risse ließen die Schollen zerbersten. Die dicken Eisplatten schoben sich übereinander, um dann unter lautem Getöse am eigenen Übermut zusammenzubrechen. Alle Meter kam der Eisbrei zum Stillstand, sammelte Kraft, um sich aufs Neue den Weg stromabwärts zu bahnen. Der Frühling in der Tundra war kein sanfter Jüngling, er war ein polternder Rabauke. Angesichts der Schnee- und Eismassen blieb ihm auch gar nichts weiter übrig: Er hatte sein Werk, das andernorts Wochen und Monate brauchte, in wenigen Tagen zu vollbringen.
    Der Sand am Ufer war noch immer leicht gefroren, er knirschte unter den Stiefeln. Ein herrliches Gefühl, nach der langen Kälte des Winters endlich tief durchatmen zu können, ohne die ständige Gefahr, sich sofort eine Lungenentzündung und damit den Tod zu holen. Lorenz ging gern diesen Pfad von der Werkstatt zur Anlegestelle, er führte weg von den Stacheldrahtzäunen in ein Stück Natur, das von Menschen noch nicht geschändet war. Auf diesem Weg konnte man sogar den Anblick der Wachtürme vermeiden. Auch wenn er wusste, sie waren da. Immer.
     
    Es war schon Nachmittag, bald würde es dunkel. Die Siedlung mit Schacht, Lager und Werkstätten blieb durch den Eisgang seit Tagen nur auf Umwegen erreichbar. Nun sollte eine erste Barke Baumaterial und einen defekten Generator bringen. Lorenz hatte zugesagt, das Gerät in der Bahnwerkstatt zu reparieren, und wollte jetzt sehen, ob es ordnungsgemäß anlandete. Als Mechaniker war er schnell zur rechten Hand des «Natschalnik» Kruglow aufgestiegen, auf den Schächten galt er als anerkannter, absolut zuverlässiger Fachmann. Von ihm hieß es: Er gibt niemandem etwas «na lapu», in die Pfote, und nimmt auch selbst nichts. In einem Land, in dem die Korruption blühte, nannte man das einen auffälligen Charakter. Das Gulag-Universum spiegelte in vielerlei Hinsicht nur die gewöhnlichen sowjetischen Verhältnisse: Ohne Bestechung rührte sich nichts.
    Auf den Transport zu achten gehörte eigentlich nicht zu den Pflichten des Mechanikers. Aber er wusste, wenn ein Dummkopf die Maschine in den Uferschlamm fallen ließ, dann bedeutete das doppelte Arbeit. So schaute er lieber selbst nach. Bis zur Anlegestelle der Barke waren es allenfalls noch ein paar hundert Meter, da sah er am Ufer neben einem umgedrehten Boot mehrere Gestalten an einem Feuer. Sie bemerkten ihn auch. Zwei Männer lösten sich aus der Gruppe und kamen ihm entgegen. Lorenz packte sofort seinen Hammer fester am Griff. Seit dem Vorfall um seinen Anzug trug er das schwere Stück an einer Drahtschlaufe immer am rechten Handgelenk. Zur Selbstverteidigung. Dass er als Schmied flink damit umgehen konnte, blieb kein Geheimnis. Selbst im Schlaf legte er den Hammer nicht ab. Seine Wattejacke, die Stiefel, die er gegen den Anzug bei einem Offizier getauscht hatte, die Fellmütze, kurzum alles, was er am Leibe hatte, besaß nach den Maßstäben des Lagers hohen Wert. Ganz zu schweigen von seinem Leben. Und er war nicht

Weitere Kostenlose Bücher