Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
Namen mit «K» das «L» aufgerufen.
«Name, Vor- und Vatersname?», schrie der Lagerkommandant. Der Schreiber versuchte, seine Finger in den Handschuhen zu bewegen.
«Lochthofen, Lorenz Lorenzowitsch.»
«Nationalität?»
«Deutscher.»
«Was für ein Deutscher?»
«Reichsdeutscher.»
«Hmm. Beruf?»
«Journalist.» Lorenz antwortete so kurz wie möglich. Alles andere konnte die Prozedur nur in die Länge ziehen.
«Hast du keinen anständigen Beruf?», murmelte der Schreiber.
Der Kommandant schaute ihn schräg von oben an, als wollte er ihm für die unnötige Verzögerung gleich mit dem Fausthandschuh eine drüberziehen, sagte aber nichts.
«Was ist ein anständiger Beruf?»
«Na, einer, der hier gebraucht wird. Als Journalist gehst du in die Tundra Schnee schaufeln. Was meinst du, wie lange du das machst, bis dich der Teufel holt?»
«Na ja, ich bin Schlosser, auch Schmied, ich kann schweißen.»
«Warum sagst du das nicht gleich?» Der Schreiber sah sich um. «Pjotr Semjonowitsch, brauchten Sie nicht einen Schlosser für die Bahnwerkstatt?»
Erst jetzt bemerkte Lorenz, dass neben der Lagerprominenz auch mehrere Figuren ohne Uniform herumstanden. Es musste sich um die Einkäufer handeln. Wie in jedem Sklavenhalterstaat gab es auch hier einen Sklavenmarkt. Verantwortliche eines Schachts oder eines Baubetriebs oder eben einer Werkstatt suchten sich unter den Neuankömmlingen ihre Arbeitskräfte aus. Lorenz schöpfte Hoffnung. Am Schmiedefeuer zu stehen war etwas ganz anderes, als draußen im Frostboden zu graben oder im Schacht Kohle zu hauen.
«So, ein Deutscher? Und du sagst, du kannst mit dem Werkzeug umgehen?»
Der Chef der Bahnwerkstatt schien ein schlechtgelaunter Mann zu sein. Aber das musste nichts bedeuten. Es war früh am Morgen, dunkel und kalt, außerdem hatten sie gestern Abend eine Flasche Spiritus aufgetan. Das wirkte nach. Nun stand er da und fror. Das Hin und Her ging ihm auf die Nerven. All die Bauern, Lehrer und Professoren, die sie hier vor ihnen aufgebaut hatten, die waren ohnehin nicht zu gebrauchen.
«Na, komm mit, wir wollen es versuchen. Aber wehe, du bist ein Aufschneider! Ein Schreiberling kann eigentlich unmöglich ein guter Schlosser sein.»
Doch ehe Lorenz nur einen Schritt tun konnte, hielt ihn der Kommandant zurück.
«Nicht so schnell, Brüderchen. Da bliebe noch die Frage: Wofür haben sie dir die Frist verpasst?»
Das war seit langem das erste Mal, dass jemand anderes als seine Mitgefangenen den Grund für seine Verhaftung wissen wollte. Aber da er weder in Engels noch in Saratow und auch nicht in Moskau irgendein Papier unterschrieben hatte, auf dem das stand, wusste er noch immer nicht, worauf sich die sogenannte Troika, das Sondergericht, geeinigt hatte.
«Das weiß ich bis heute nicht.»
Der Kommandant schaute ärgerlich. Die Sache mit diesem Deutschen dauerte schon viel zu lange. Auch er fror. Trotz des dicken Schafspelzes und des kräftigen Schluck Wodkas, den sie in der Schreibstube gekippt hatten, ehe es auf den Appellplatz ging. Die wärmende Wirkung des Schnapses ließ beim Buchstaben «L» gerade nach, und der Lagerkommandant war damit beschäftigt zu überlegen, wo sie ein neues Fläschlein herkriegen könnten.
«Waska, schau in den Papieren nach, irgendwas wird doch zu diesem deutschen Chui drinstehen.»
Früher, draußen, im richtigen Leben, hätte Lorenz das mit dem «Schwanz» nicht so hingenommen. Aber dass es bei einem solchem Appell nicht ohne «Mat» abgehen würde, das war ihm klar. So tat er, als hätte man ihn höflich bei Vor- und Vaternamen genannt und wartete. Endlich hatte der Schreiber das richtige Blatt und studierte es im Schein seiner Taschenlampe.
«KRTD», zeigte er dem Kommandanten triumphierend die entsprechende Stelle.
«KRTD», wiederholte der Oberstleutnant befriedigt.
«KRTD?», sprach Lorenz verwundert nach. Sollte ihm dieser Schrottkin doch die Sache mit Trotzki angehängt haben? Denn schon in Saratow spielte das Thema bei den Verhören keine Rolle mehr. KRTD war das Kürzel für «Konterrevolutionäre trotzkistische Tätigkeit». Damit konnte man jeden und alle hinter Gitter bringen. Bei Bedarf auch erschießen. Trotzki hatte als Stalins schärfster Rivale gegolten. Dass er von Lenin zeit seines Lebens bevorzugt wurde, schürte den Hass des Georgiers zusätzlich, obwohl sich beide in ihren Zielen und Methoden nicht sonderlich unterschieden, auch wenn der eine als brillanter Denker und der andere eher mit seiner
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