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Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters

Titel: Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lochthofen
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ein 2. Kessel das Minimum, das man erwarten durfte: 600 Gramm Brot, dazu einen Teller Suppe und einen Schlag Kascha.
    Wer den 3. Kessel bekam, und auch das war hier möglich, konnte mit dem, was er selbst nicht benötigte, etwas Handel treiben. Denn ein Zweipfundbrot, Brei und eine Suppe mit Spurenanteilen von Fleisch – meist war es mit allem Möglichen gestrecktes Gehacktes –, machte einen fast satt. Das Ganze ließ sich steigern bis zum Rekord-Kessel, der nach den Maßstäben des Lagers schon so etwas wie ein Festessen war: 1200 Gramm Brot, Fleisch oder Fisch, Kascha und Suppe und zur Krönung Kompott. Täglich. Als Voraussetzung dafür galt eine beachtliche Übererfüllung des Plans. Das schaffte in der Regel keiner. Aber träumen durfte man davon.
    Die Masse der Gefangenen kam in all den Jahren der Lagerhaft nie über den 1. Kessel hinaus. Das hieß hungern. Jeden Tag. Immer in der Hoffnung, irgendwie ein paar Gramm Brot zusätzlich zu ergattern. Nur wenigen gelang es. Die meisten hatten längst nichts mehr zum Tauschen. Und Pakete durften nicht alle empfangen, Ausländer schon gar nicht. Lorenz konnte nicht auf solche Hilfe hoffen, keiner seiner Angehörigen, weder Mutter noch sonst jemand, wusste, wo er war und ob er überhaupt noch lebte.
    Die anderen in der Werkstatt hatten längst ihre Arbeit liegenlassen und sahen jetzt zu, wie sich der Deutsche anstellte. Helfen, daran dachte keiner. Es war aus ihrer Sicht schon viel, dass sie ihm Werkzeug überließen. Lorenz schaute in alle Ecken, konnte jedoch das richtige Stück nicht finden, Rundstahl, eine Zwei-Zoll-Stange. So musste er raus in die Kälte und vor der Tür im Schnee suchen. Ihm schien, als habe er beim Reingehen etwas Passendes gesehen. Er hatte sich nicht getäuscht. Als er zurück in die Werkstatt kam, war er eingehüllt in eine dampfende Wolke von Eiskristallen. Das Thermometer musste in der Nacht nochmals deutlich gefallen sein. Er kerbte die Stange an, legte sie auf den Amboss und bat seinen Helfer festzuhalten. Alle kamen näher, um ja nichts zu verpassen. Bei dem Deutschen konnte es sich nur um einen Hochstapler handeln. Denn um die Stange zu bearbeiten, musste man sie erst im Feuer zum Glühen bringen.
    Schon beim ersten Zugriff spürte Lorenz, der schwere Hammer lag gut in der Hand. Das gab Sicherheit. Er holte aus und schlug zu. Die Stange brach, genau an der richtigen Stelle. Unter Umständen hätte er ein zweites oder drittes Mal zuschlagen müssen, aber es konnte nur eine Frage der Zeit sein, wann das benötige Stück abbrechen würde. Das lag am Frost, er machte das Metall spröde. In Deutschland wäre das so nicht gegangen – nicht kalt genug.
    Kruglow summte leise einen Militärmarsch. Auch der Meister schien jetzt wie verwandelt. Er lächelte breit und klopfte dem Neuen gönnerhaft auf die Schulter.
    «Molodetz!» Was so viel heißen sollte wie: Das hast du gut gemacht. Ihm war klar, dem Deutschen konnte man einiges aufbürden.
    «Klar, Junge, für dich haben wir hier genug zu tun. Leg das Zeug weg, das sollen andere machen. Für dich habe ich Besseres …»
    Doch der Meister kam nicht dazu, seinen Satz zu vollenden. Kruglow schob ihn beiseite:
    «Nichts da. Der Happen ist zu fett für dich. Wie war Ihr Name?»
    Lorenz konnte sich nicht erinnern, dass ihn in den letzten Monaten überhaupt jemand nach seinem Namen gefragt hätte. Als Häftling hatte man allenfalls eine Nummer. Doch das schien sich gerade zu ändern. Zum ersten Mal seit der Verhaftung in Engels spürte er wieder Boden unter den Füßen.
    «Lorenz Lorenzowitsch, das ist nicht schwer zu merken.»
    «Na dann, Lorenz Lorenzowitsch, kommen Sie mit mir. Können Sie als Schlosser genauso arbeiten oder noch besser als Mechaniker? Ja? Wunderbar, es wartet viel Arbeit auf Sie.»
    Es mochte sein, dass Pjotr Semjonowitsch Kruglow selbst über keine besonderen handwerklichen Fähigkeiten verfügte. Aber er hatte einen Riecher für die Talente der anderen. Und sein Riecher sagte ihm, mit dem Deutschen hatte er an diesem verkaterten Morgen einen guten Fang gemacht. Irgendwo in diesem chaotischen Reich des Mangels und des Pfuschs stand immer ein überladener Waggon mit gebrochener Achse, drehte sich ein heißgelaufenes Förderrad nicht mehr. Da war die Not groß, und nur die Bahnwerkstatt konnte helfen. Der Deutsche passte gut dazu. Als Lorenz später, weil es ihm in der Werkstatt zu dunkel war und es in ganz Workuta keine Glühlampen gab, vier oder fünf durchgebrannte

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