Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
bereit, irgendetwas davon kampflos abzugeben.
«Grüß dich, Mechaniker», sprach ihn einer der beiden Männer schon aus sicherer Entfernung an, wohl wissend, dass ihr Auftreten auch missverstanden werden konnte. Lorenz erkannte ihn als einen der Heizer aus dem Kesselhaus.
«Mechaniker, hast du ein bisschen Machorka?»
Erleichtert, dass die Begegnung einen solch harmlosen Grund hatte, reichte Lorenz beiden eine Papirossa.
Die Barke hatte sich inzwischen vom Steilufer auf der anderen Seite gelöst. Trotz des Eisgangs würde sie bestimmt nicht mehr als eine Viertelstunde brauchen, den Fluss zu queren. An der Anlegestelle wartete allerlei Volk, um gleichfalls eine Lieferung oder, wie im Fall der Wachleute, eine frische Partie Häftlinge in Empfang zu nehmen. Feuer brannten, es wurde laut gelacht und erzählt. Das Ende des Winters stimmte die Menschen froh, ließ sie nicht so gedrückt aussehen, und fast vergaßen sie, dass sie eingesperrt waren. Lorenz blieb abseits, er wartete, bis der rostige Kahn endlich im Ufersand stecken blieb. Dann wurden die ersten Säcke, Kisten und Bretter an Land bugsiert. Seine Leute hatten ein Fuhrwerk aufgetrieben und trugen den Generator nun unter den kritischen Blicken des Mechanikers zum Wagen.
Zufrieden, dass die Sache schnell und glatt verlief, wollte sich Lorenz auf den Rückweg machen. Ihn trieb eine Verabredung mit Kajetan, einem Österreicher aus Linz. Also fast ein Landsmann. Dieser Kajetan saß für die örtlichen Verhältnisse auf einem Traumposten: Er verwaltete ein Lebensmittellager, in dem es so ziemlich alles gab, was ein Häftling heiß begehrte: Kartoffeln, Buchweizen, Speck. Wie Kajetan zu diesem Posten gekommen war, darüber schwieg er sich beharrlich aus. Und Lorenz fragte nicht nach. Der Mann hatte eben Glück. Ihm selbst reichte es aus, ab und zu mit Kajetan ein paar Worte auf Deutsch zu wechseln, einen zu trinken und dazu etwas Sakuska zu haben. Ein Tag, der so zu Ende ging, war ein guter Tag in Workuta.
Die Vorratsbaracke, befestigt und scharf bewacht, lag nicht weit vom Fluss. Er hatte sich schon zum Gehen gewandt, da glaubte er plötzlich in der Menschenmasse, die von Bord der Barke strömte, etwas Bekanntes zu erkennen. Vielleicht war es auch nur ein Ahnen. Denn im Grunde sahen die ausgezehrten Menschen alle gleich aus. Etwas versetzte ihn in Unruhe. Er ging noch einmal zur Barke, Kajetan konnte die paar Minuten warten.
Einer nach dem anderen stolperten die Männer an ihm vorbei. Vielen war anzusehen, dass sie die nächste Kälte nicht überleben würden. Der lange Weg in den Norden, die Entbehrungen der Etappen, der Hunger, die ständige Angst, entkräftet zurückzubleiben und mit einem Genickschuss zu enden, hatte sie schon zu viel Kraft gekostet. Mit ihnen würde der Frost leichtes Spiel haben.
«Hofer! Du Schwein!»
Es brach aus Lorenz heraus, noch bevor er selbst richtig begreifen konnte, was da gerade geschah. Also doch, sein Gefühl hatte nicht getrogen. Lorenz zerrte das Gerippe in seinen zerlumpten Sachen aus der Reihe und hielt es mit der linken Hand am Kragen. Seine Rechte umklammerte den Hammer. Fast hatte es den Anschein, der Mann könne fliegen, so leicht und widerstandslos baumelte er in der Hand des Mechanikers.
Totschlagen?! Einfach totschlagen!
Er konnte nichts anderes denken als «Hofer, du Verbrecher, du elendes Schwein!». Trotz der Erbärmlichkeit seines Aufzuges gab es keinen Zweifel, es war Hofer. Es war einer der beiden Männer, denen er das hier verdankte, die ihn hierher verschickt hatten. Hierher, in dieses schreckliche Lager, obwohl sie nichts, aber auch gar nichts gegen ihn vorzubringen hatten. Wäre es da nicht allzu gerecht, nun mit gleicher Münze zu zahlen? Was sollte ihm schon passieren? Da wurden aus den fünf Jahren eben zehn. Na und? Damit musste er sowieso rechnen. Und ihn irgendwohin schicken, wo es noch schlimmer war, das ging auch nicht mehr. Er war bereits am äußersten Ende dieser Welt. Die, und davon konnte er sich hier selbst überzeugen, nicht rund, sondern doch flach war. Und diese Welt hatte einen Rand, von dem man täglich in den Tod stürzen konnte.
Hofers Augen quollen aus seinem Gesicht. Er schaute Lorenz verzweifelt an, davon überzeugt, dass sein Leben jetzt zu Ende sei.
«Nun hol noch einmal tief Luft, Hofer, und wenn du beten kannst, dann bete …»
Er machte eine Pause, hob langsam den Hammer.
Hofer schaute auf Lorenz, schaute auf den Hammer, blickte zum Kahn hinüber und konnte keinen
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