Schwarzes Eis: Der Lebensroman meines Vaters
zwei wichtige Botschaften. Erstens: Er konnte hier wieder weg. Das war schon ungewöhnlich genug. Zweitens: Er bekäme auch noch Proviant dazu. Das hieße, er würde morgen und vielleicht auch übermorgen satt werden. Er lachte in sich hinein: Und du Dummkopf hast gedacht, das ist tatsächlich das Ende.
Lorenz unterbrach Hofers Selbstbetrachtungen.
«Diese alberne Geschichte von damals, mit dem Lastwagen im Schlamm, meine Satire dazu in der Zeitung, das war doch nicht der wirkliche Grund, warum ihr mich verhaftet habt? Oder?»
Er schaute seinen Untersuchungsführer gespannt an. Doch Hofer hatte inzwischen für sich geklärt: Von den beiden bringt dich keiner um. Viel zu weich. Schlagen, ja, vielleicht. Aber umbringen? Nein. Und: Der Deutsche will etwas von dir wissen und ist bereit, dafür zu zahlen. Erst Kartoffeln, dann ein Glas Wodka, und liegen da nicht am anderen Ende des Tischs ein paar fette Heringe, fein in Streifen geschnitten, in einem Töpfchen? Kurzum, ein Festmahl. Er, Hofer, würde hier nicht rausgehen, ehe er nicht alles leergegessen hätte. Und die zwei würden es ihm servieren.
«Nein, da haben Sie völlig recht, Lorenz Lorenzowitsch, das war nicht der Grund Ihrer Verhaftuuuung.»
Das letzte Wort zog er bewusst zum Ende hin in die Länge und blickte, den Hals reckend, zum Fisch hinüber.
«Ist genug», schnauzte der Österreicher. «Wenn du überhaupt noch etwas kriegen solltest, dann mach die Guschen auf. Sonst überlege ich mir das mit dem Beil.»
Aber Hofer schaute unbeeindruckt auf den Fisch, wie ein dürrer Kater, den sie gerade mitsamt dem Sack aus dem Fluss gefischt hatten und der genau wusste, man würde ihn nicht wieder hineinwerfen.
Lorenz spießte ein Stück Hering auf die Gabel, hielt sie hoch und drehte langsam einen Kreis vor der Nase des Mannes:
«Du kriegst den Fisch, aber rede!»
«Na ja, Sie wissen doch, Lorenz Lorenzowitsch, da gab es so eine Parteiversammlung, der stellvertretende Parteisekretär der Stadtleitung sollte verarztet werden. Eine klare Sache. Die hatten die Papierchen für ihn schon fix und fertig. Zehn Jahre Lager als rechter Abweichler. Der Oberst selbst übernahm den Fall. Schrottkin assistierte nur.»
«Weiter, und was habe ich damit zu tun?»
Lorenz dämmerte es, dennoch zog er es vor, den Unwissenden zu spielen.
«Haben Sie schon vergessen? Der Mann war auf dem Rückweg von einer Dienstreise aus Moskau, wo er, wie sich später herausstellte, einflussreiche Gönner hatte. Na, jedenfalls sickerte die Sache durch, jemand muss ihm einen Tipp gegeben haben. Lange wussten wir nicht, wer es gewesen sein konnte.»
Hofer schaute Lorenz vielsagend an.
Ja, das stimmte. Kolja, sie duzten sich, war das, was man einen feinen Kerl nannte. Offen und hilfsbereit. Als Russe konnte er in Engels nicht die Nummer eins sein, den Posten musste in der Hauptstadt der Wolgadeutschen wenigstens zum Schein ein Wolgadeutscher besetzen. Aber in Wirklichkeit zog Kolja die Fäden und machte auch die Arbeit. Lorenz wusste das, er schätzte ihn. Logisch, dass er versuchte, ihn zu warnen, als das Gerücht von seiner Verhaftung aufkam. Er bat Koljas Frau um Rückruf, sobald ihr Mann zu Hause sei. Es sei sehr wichtig. Lebenswichtig. Sie verstand. Als Kolja hörte, dass man ihn heiß erwartete, drehte er sofort um und fuhr wieder nach Moskau. Dort ließ er seine Beziehungen spielen und kam erst am Tag der entscheidenden Parteiversammlung zurück. Lorenz steckte er die Nachricht zu, er habe alles im Griff.
«Und dann …»
Hofer schnappte Lorenz die Gabel aus der Hand, spießte mit einer blitzartigen Bewegung ein zweites Stück Fisch auf und verschlang die Beute. Lorenz ließ ihn gewähren, während Kajetan fluchte, aber jedem einen ordentlichen Schluck aus der Wodkaflasche nachgoss.
«Na ja, dann sprangen Sie, Lorenz Lorenzowitsch, in dieser Versammlung auf und lobten den Mann. Das sah nach Harakiri aus. Doch da wedelte Ihr Freund mit seiner Direktive aus Moskau. Unser Oberst tobte vor Wut. Hier konnte etwas nicht stimmen. Wir beim NKWD können ja auch eins und eins zusammenzählen. Da wussten wir, wer uns die Sache vermasselt hatte.»
Er grinste.
«Nun, dass die Geschichte eine Fortsetzung haben würde, war klar. Der Apparat vergisst nichts. Der Apparat vergibt nie! Den Rest kennen Sie …»
Ja, den Rest kannte Lorenz. In der Versammlung rückten einige sofort von ihm ab. Andere wunderten sich über seinen Mut. Dritte über seine Dummheit. Er selbst glaubte sich auf der
Weitere Kostenlose Bücher