Schwarzes Prisma
Kip war erleichtert gewesen. Sie war ihm zu gut für das kleine Rekton erschienen. Aber obwohl er sich sicher war, dass sie seither nicht mehr an ihn gedacht hatte, hatte er sie vermisst. Sie war wie die Sonne gewesen, die über ihm dahinzog, und er hatte sich ihr zugewandt, wenn sie vorbeikam, gewärmt von ihrer Anwesenheit, aber niemals kühn genug, auf mehr zu hoffen. Als Meister Danavis ihm erzählt hatte, dass Liv wegen irgendeines Mädchens in der Chromeria harte Zeiten durchmache, hatte Kip sofort aufbrechen und die Täterin töten und dann nach Hause zurückkehren wollen.
Zu sehen, wie ihr das gewellte Haar um die Schultern tanzte, während sie vor ihm herging, erzeugte ein Gefühl, als stünde er nach einem langen Winter wieder im Sonnenlicht. Kip wollte keine Worte. Früher hätte er sein großes Maul aufgemacht und gewiss alles verdorben. Jetzt beobachtete er einfach nur, wie sie ging, und zog sich ohne jede Anmut seine eigene Hose hoch, während sie zielbewusst ausschritt, heimisch hier, gelassen, selbstsicher, was ihre Umgebung betraf.
»Ich glaube, ich habe mich verirrt«, sagte Liv. Sie schaute nach beiden Seiten des Flurs, die genau gleich aussahen. Sie biss sich auf die Unterlippe.
Den Blick auf diese volle, leicht feuchte Lippe geheftet, schluckte Kip hörbar.
Sie ging weiter, und Kip folgte ihr. Liv hatte sich während der Zeit, die sie fort gewesen war, in eine Frau verwandelt. Sie war so schlank, wie er fett war. Ihre Augen groß und glänzend braun, ihre Haut glatt und klar, wo er mit Pickeln am Hals und am Kinn verflucht war, während sein Bart gerade erst zu sprießen begann. Orholam sei gedankt, zumindest war ihre Brust üppiger als seine.
Kip schaute dort jedoch kaum hin, und während er ihr jetzt folgte, betrachtete er auch ihren Körper kaum. Ihr Rock umwogte sie tatsächlich beim Gehen auf eine höchst angenehme Weise und entblößte schlanke, wohlgeformte Waden. Aber abgesehen von ein oder zwei Blicken oder vielleicht dreien – Kip schaute abermals hin. Aah! Vier Blicke. Abgesehen davon sah er sie nicht so an, wie er einige andere schöne Frauen angesehen hätte. Es erschien ihm einfach respektlos.
Hoppla, fünf Blicke.
Sie blieb vor den Aufzügen stehen. »Es ist mir gerade erst aufgefallen«, sagte sie und lachte über sich selbst, »dass ich gar keine Ahnung habe, wo ich dich hinbringen soll. Hm, ich sag dir was. Du kannst mit in mein Zimmer kommen, bis ich diese Frage geklärt habe. Wenn du dich so fühlst, wie ich mich nach der Mangel gefühlt habe, wirst du wahrscheinlich ein Nickerchen brauchen. Richtig?«
Kip war sich nicht sicher, warum ihm das nicht schon früher aufgefallen war, aber er war müde. Er hatte das Gefühl, als hätte jemand die Flasche mit seiner Energie genommen und alles herausgeschüttelt. Er nickte.
»Dir ist nicht nach Reden zumute?«, fragte sie und schenkte ihm ein kleines Grinsen. Es war die Art Grinsen, mit der man ein kleines Kind bedachte, das die Zeit für den Mittagsschlaf verpasst hatte und jetzt alles daransetzte, um wach zu bleiben und seinen Nachtisch zu bekommen. Aber Kip konnte nicht einmal die Leidenschaft heraufbeschwören, angesichts dieses nachsichtigen Grinsens in Verzweiflung zu geraten.
Sie findet mich süß. Süß. Uh.
Sie stellte die Gegengewichte im Aufzug ein, hielt für einen Moment inne – sie musste überrascht gewesen sein, wie viel Gewicht sie brauchte, um Kips Gewicht auszugleichen – und fügte weitere hinzu. Binnen Sekunden schossen sie den Turm hinauf und kamen an anderen Schülern vorbei, die nach oben oder nach unten fuhren. Sie hielten an und traten in eine große Halle, von der einer der gläsernen Gänge ausging, die die Türme untereinander verbanden.
Kip sah Liv mit hochgezogenen Augenbrauen an.
»Meine Wohnung ist drüben im gelben Turm. Gelb liegt in der Mitte des Spektrums, also haben Bichromaten und Polychromaten häufiger Gelb als andere Farben, weshalb der gelbe Turm mehr Wohnungen für Bichromaten enthält. Hast du Höhenangst?«
»Normalerweise nicht«, antwortete Kip beklommen.
»Oh, du kannst also doch reden!«
»Ich kann auch fallen«, murmelte er.
»Du wirst schon zurechtkommen, ich verspreche es«, erwiderte sie. Sie trat hinaus in das Rohr. Es maß vier Schritt in der Breite und war umschlossen von einem so dünnen blauen Luxin, dass es beinahe durchsichtig war. Der Boden des Gangs bestand aus dickerem, mit gelben Stäben verstärktem Blau. Es sah trotzdem sehr dünn aus. Wie Kip
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