Schwarzes Prisma
ließ den falschen Prüfstein mit dem letzten Rest Ultraviolett an seinen Fingern in das Loch fallen.
Es hatte alles weniger als eine Sekunde gedauert, und Gavin hatte sich nicht einmal vorgebeugt. »Nun, wollen wir mal sehen, was wir hier haben, ja?«, sagte er, immer noch damit beschäftigt, das kostbare Tuch von dem Loch wegzuziehen.
Vor den Augen von Mistress Varidos schob Gavin das schwarze Tuch beiseite und griff in den Behälter; er beugte sich vor, nahm den Prüfstein und zog ihn heraus. Der Prüfstein war ein Elfenbeinzylinder – aus den Stoßzähnen entweder eines an Land gespülten Meeresdämons oder eines Elefanten aus dem tiefsten Ruthgar –, und er hatte an jedem Ende eine Kappe aus Obsidian. Das Elfenbein war kostbar, aber das eigentliche Wunder war der Obsidian. Niemand wusste, von wo auf der Welt der Obsidian kam. Obsidian war seltener als Diamanten oder Rubine, also wurden die Obsidiankappen eines jeden Prüfsteins nach jeder Prüfung entfernt, um wieder benutzt zu werden.
Die Abergläubischen nannten ihn Höllenstein. Die meisten Wandler waren einfach glücklich darüber, dass er selten war, denn es war der einzige Stein, der Luxin direkt aus einem Wandler herausziehen konnte. Gavin hatte gehört, dass in der alten Welt Könige und Satrapen – und in mystischeren Geschichten die Mörder des Gebrochenen Auges – ganze Dolche oder sogar Schwerter aus Obsidian geschaffen hatten. Aber Obsidian zeigte seine magischen Eigenschaften nur dann, wenn zwei ganz besondere Umstände zusammentrafen. Erstens, der Stein musste sich in fast vollkommener Dunkelheit befinden: das heißt, in einem absoluten Mangel an Licht im sichtbaren Spektrum – aus irgendeinem Grund störten Ultraviolett und Infrarot ihn nicht in seiner Wirkung. Zweitens, er brauchte das Blut des Wandlers, eine offene Schnittwunde. Es musste eine direkte körperliche Verbindung zwischen dem Obsidian und dem Luxin geben, damit das Luxin aus dem Wandler herausgezogen werden konnte. Wenn die Verbindung jedoch erst einmal hergestellt war, war der Sog ziemlich stark. Schnitt man einem Wandler mit Obsidian die Schulter auf, während er Luxin in der Hand hielt, und drückte den Stein auf die Schnittwunde, dann hatte man ihm binnen zehn Sekunden alles Luxin genommen. Die Gelehrten vermuteten, das liege daran, dass Wandler zu jeder Zeit überall in ihrem Körper Luxin hätten, so dass man es ihnen auch an beliebiger Stelle des Körpers entziehen konnte, selbst wenn es sich scheinbar an anderer Stelle im Körper des Wandlers befand.
Weil die Geschwindigkeit, mit der Obsidian Luxin aus einer Person zog, nach Farbe verschieden war, ergaben sich hübsche Linien, wenn die Farben in das Elfenbein hineingezogen wurden. Wenn eine Farbe sich bildete und blieb und dick genug war, wurde der Bittsteller für würdig erachtet, eine Ausbildung in dieser Farbe zu empfangen. Wenn es zwei Farben waren, wurde der Bittsteller als Bichromat eingestuft, und mehr als zwei machten ihn zu einem Polychromaten.
Gavin ergriff den Prüfstein. Er fing einen schwachen Duft von Nelken auf, den Geruch von ultraviolettem Luxin. Er hielt den Stein nur für einen Moment in der Hand und setzte seine ganze Willenskraft in den Wunsch, der Duft möge sich zerstreuen, dann reichte er den Stein an Mistress Varidos weiter. Als oberste Prüferin war es ihre Aufgabe, die Ergebnisse zu verkünden. Während er das tat, sammelten sich alle anderen um sie herum. Sie nahm die Obsidiankappen vorsichtig ab, verstaute sie in einer speziellen Schatulle und hielt den Prüfstein dann hoch. Er wies einen klaren, dicken grünen Streifen auf, der in Richtung blauer Seite besonders kräftig war, und daneben einen weniger vollen blauen Streifen. Gelb war schwach. Außerdem war da eine winzige Menge Ultraviolett. Es war eine klassische Glocke, das häufigste Muster bei Wandlern.
Die Mistress sagte: »Hiermit erkläre ich Kip von Rekton als von Orholam beschenkt in den Farben Grün und Blau. Ultraviolett ist ungewiss und wird zu einem späteren Zeitpunkt weiter geprüft werden. Kip, herzlichen Glückwunsch, du bist ein Bichromat.«
Applaus brandete auf.
Nur Kip wirkte immer noch verwirrt.
Gavin ging um den Tisch herum und legte Kip einen Arm um die Schulter, um ihn an sich zu drücken. »Gut gemacht, Kip.«
Kip erschlaffte in Gavins Umarmung. »Ich habe also bestanden?«, fragte er leise.
»Du hast bestanden. Ich bin stolz auf dich.«
Abermals erhob sich Applaus, und im Nu brachten Sklaven, die
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