Schwarzes Prisma
Frauenzimmer im Rollstuhl gegenüber nicht so unterwürfig sein. Du solltest veranlassen, dass die Hexe dieses Jahr an der Befreiung teilnimmt.«
Gavin ließ seinem Vater diese Bemerkung kommentarlos durchgehen. Es war ein alter Streit. Die Weiße sagte die gleichen Dinge über Andross, abzüglich der Herabsetzung. Gavin setzte sich neben seinen Vater und betrachtete ihn in dem unheimlichen, ultravioletten Licht seiner Fackel.
Trotz der absoluten Dunkelheit im Raum trug Andross Guile eine dicht um seine Augenhöhlen geschmiegte, geschwärzte Brille. Gavin konnte sich ein Leben in vollkommener Dunkelheit nicht vorstellen. Das hatte er nicht einmal seinem Bruder angetan. Andross Guile war ein Polychromat der Farben Gelb bis Infrarot gewesen. Wie so viele andere Wandler hatte er sich während des Kriegs des Falschen Prismas bis an seine absolute Grenze verausgabt. Und darüber hinaus. Er hatte natürlich für seinen ältesten Sohn gekämpft. Weil er zu viel Magie benutzt hatte, hatte er schließlich die Abwehrmaßnahmen seines Körpers dagegen zerstört. Aber nach dem Krieg, als so viele Wandler die Befreiung gewählt hatten, hatte Andross darauf bestanden, sich in diese Räume zurückzuziehen. Als Gavin Andross zum ersten Mal hier besucht hatte, waren blaue Filter vor den Fenstern gewesen. Da seine eigene Macht am entgegengesetzten Ende des Spektrums lag, hatte Andross sich im blauen Licht sicher gefühlt. Später hatten die Ärzte ihm erklärt, dass er absolute Dunkelheit benötigte, wenn er weiterhin gegen die Farben kämpfen wollte. Wenn er derart extreme Vorsichtsmaßnahmen ergriff, musste er dem Abgrund in der Tat sehr nahe sein.
»Ich höre, du versuchst, einen Krieg anzufangen«, sagte Andross.
»Nun, ich versuche selten etwas ohne Erfolg«, erwiderte Gavin. Er machte sich nicht die Mühe, darüber zu staunen, dass sein Vater bereits Bescheid wusste. Natürlich wusste Andross Guile Bescheid. Die Hälfte der mächtigsten Männer und Frauen im Turm schuldete dem Mann Loyalität oder Furcht.
»Wie?«
»Mir wurde in einem Brief mitgeteilt, dass ich einen leiblichen Sohn in Tyrea habe. Als ich dort eintraf, stand die Stadt in Flammen. Ich bin über einige Spiegelmänner gestolpert, die im Begriff waren, ein Kind zu ermorden, und ich habe sie aufgehalten.«
»Du hast sie getötet.«
»Ja. Das Kind erwies sich als mein leiblicher Sohn, und die Männer erwiesen sich als Soldaten Rask Garaduls. Er statuierte ein Exempel an der Stadt, weil sie sich geweigert hatte, ihm Rekruten zu schicken. Er schützte ein besonderes Interesse an dem Jungen vor, aber ich bin mir nicht sicher, ob das nur daran lag, dass er dachte, er würde mich damit verletzen.«
»Ein besonderes Interesse? Ich dachte, er sei dort gewesen, um die Stadt zu bestrafen.«
»Er sagte, Kip habe ihm etwas gestohlen.«
»Und hatte er das?«
»Der Junge behauptete, seine Mutter habe ihm eine Schatulle gegeben, kurz bevor sie an den Verletzungen starb, die sie während des Angriffs davongetragen hatte. Er hat die Schatulle demnach nicht gestohlen.«
»Aber du hast den Dolch? Ist er das weiße Luxin?«
Ein Frösteln schoss Gavin über den Rücken. Er hatte gedacht, der schlimmste Teil dieses Gesprächs würde darin bestehen, dass sein Vater in den Einzelheiten der Affäre herumstocherte, die er – der falsche Gavin – nicht wirklich gehabt hatte und an die er sich daher nicht erinnern konnte. Ein Dolch aus weißem Luxin? Weißes Luxin war nicht möglich, und wenn Andross Guile davon sprach, bedeutete das, dass er es für möglich hielt. Oder wusste, dass es möglich war. Dass er etwas Derartiges gesehen hatte und dachte, Gavin solle wissen, wovon er sprach …
Sein Bruder hatte ebenfalls einen Dolch erwähnt. Gavins Brust schnürte sich zusammen.
Wenn er nicht sehr vorsichtig war, würde er seine Tarnung ruinieren. Das war der Grund, warum er seinem Vater so oft wie möglich aus dem Weg ging. Andross Guile war einer der wenigen Menschen, die genau wussten, welche Erinnerungen Gavin haben würde und welche Dazen haben würde. Andere, die Bescheid wussten, waren ihm während des Krieges fremd geworden oder hatten den Tod gefunden. Die jämmerliche Ausrede, dass die Heftigkeit des Kampfes der Brüder auf Leben und Tod dazu geführt habe, dass Gavin einige Dinge vergessen hatte, ließ sich nicht überstrapazieren. Gerade Andross mochte ihm dafür verzeihen, dass er sich nicht richtig an Dinge erinnerte, die sich im Vorfeld der letzten Schlacht
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