Schwarzes Prisma
er. Er fühlte sich stark. Er fühlte sich stärker und hatte größere Kontrolle über seine Farben als in seinem ganzen Leben.
Natürlich konnte alles eine Illusion sein. Er war in anderen Dingen außergewöhnlich gewesen; vielleicht würde er morgen umfallen und sterben.
Bei dem Gedanken verspürte er diese vertraute Enge in der Brust. Er hatte keine Angst vor dem Tod, aber er hatte Angst zu sterben, bevor er seine Ziele erreicht hatte.
Er stand draußen vor der Wohnung seines Vaters im Turm des Prismas. Der Sklave seines Vaters – Gavin wusste, dass der Mann Grinwoody hieß, aber es war unhöflich, den Namen eines Sklaven zu benutzen, wenn er ihn einem nicht selbst enthüllte – wartete und hielt ihm die Tür auf. Es war eine Tür in mehr als eine Art von Dunkelheit. Gavin spürte einen scharfen Schmerz in der Brust. Es fiel ihm schwer zu atmen.
Andross Guile wusste nicht, dass er nicht Gavin war. Er wusste nicht, dass sein älterer Sohn unter der Chromeria verrottete. Er hielt Dazen für tot, und der Tod seines Sohnes hatte ihm niemals Sorgen gemacht und ihm erst recht kein Bedauern abgenötigt. Verräter wurden vergessen und nie wieder erwähnt.
»Lord Prisma?«, fragte der Sklave.
Gavin schüttelte die letzten Luxin-Fäden von den Fingern, und die harzigen Gerüche schenkten ihm einen schwachen Trost.
Andross Guiles Zimmer wurde vollkommen dunkel gehalten. Vor den Fenstern hingen dicke Samtvorhänge, ebenso vor der ganzen Wand. Um den Eingang herum war ein Lichtfang errichtet worden, so dass das Licht aus dem Flur nicht mit seinen wenigen Besuchern würde eindringen können. Gavin zog ultraviolettes Luxin in sich hinein und trat dann in den Eingang.
Grinwoody schloss die Tür hinter ihnen. Gavin zog einen kleinen Ball aus Ultraviolett in die Hand, unvollkommen gewandelt, so dass er instabil sein würde. Die mangelnde Stabilität führte dazu, dass er langsam wieder in Licht seines eigenen Spektrums zerfiel. Für einen Ultraviolettwandler war es so, als trage er eine Fackel, deren Licht für alle anderen unsichtbar war. Weder Grinwoody noch Andross waren Ultraviolettwandler, also konnte Gavin so viel schauerlich violettes Licht haben, wie er wollte.
Gavin beobachtete, wie Grinwoody ein schweres Kissen vor den dünnen Spalt unter der Tür hinter ihnen schob. Der Mann hielt inne, bis seine Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Er war kein Wandler, also konnte er seine Augen nicht direkt kontrollieren. In der Dunkelheit kostete es einen Blinden – einen Nichtwandler – eine halbe Stunde oder mehr, bis sich seine Augen auf den Mangel an Licht eingestellt hatten. Die meisten Wandler schafften das innerhalb von zehn Minuten. Bei einigen dauerte es nur Sekunden. Aber Grinwoody versuchte gar nicht zu sehen. Er hatte sich die Einrichtung des Raums offensichtlich schon vor Jahren eingeprägt; er überzeugte sich lediglich davon, dass er kein Licht in Hochmeister Guiles Raum einließ. Als er schließlich zufrieden war, öffnete er die Tür.
Gavin war dankbar dafür, Ultraviolett zu halten. Wie alle Wandler hatte man ihn gelehrt, nicht mit Farben seine Stimmung zu beeinflussen. Wie die meisten scheiterte er häufig. Vor allem für Polychromaten war es eine Versuchung. Es gab eine Farbe für jedes Gefühl oder als Gegengewicht für jedes Gefühl. So wie in diesem Moment. Die Benutzung des ultravioletten Luxins war an ein Gefühl von Entrücktheit, Entfremdung oder Andersartigkeit geknüpft. Manchmal schien es ironisch oder zynisch. Immer war es so, als betrachte er sich selbst von oben.
Du bist das Prisma, und du hast Angst vor einem alten Mann.
Im ultravioletten Licht seiner Fackel sah Gavin seinen Vater in einem hohen, gepolsterten Sessel sitzen, das Gesicht einem verhüllten, verbretterten Fenster zugewandt. Andross Guile war ein hochgewachsener, kräftig gebauter Mann gewesen. Jetzt war das Gewicht von seinen breiten Schultern heruntergesackt und bildete einen kleinen Ball in seinem Bauch. Er war nicht korpulent; es war nur so, dass das Gewicht, das er noch hatte, sich in seinen Eingeweiden sammelte. Seine Arme und Beine waren dünn geworden von Jahren, in denen er diesen Sessel kaum verlassen hatte; seine Haut war sehr faltig und mit seinen fünfundsechzig Jahren bereits fleckig geworden.
»Sohn, es ist so nett von dir, mich zu besuchen. Ein alter Mann wird einsam.«
»Es tut mir leid, Vater. Die Weiße sorgt dafür, dass ich immer sehr beschäftigt bin.«
»Du solltest diesem
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