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Schwarzes Prisma

Schwarzes Prisma

Titel: Schwarzes Prisma Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Brent Weeks
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fällt zu glauben, mein Lord Prisma?« Die Weiße grinste. Manchmal wirkte sie trotz ihrer Jahre wie ein schelmisches Mädchen.
    »Weil wir wissen, dass Orholam für jeden Tag, den er wach ist, hundert Jahre schläft?«, fragte Gavin verbittert.
    Sie schluckte den Köder nicht. »Weil wir uns selbst kennen. Weil andere uns gehorchen, als seien wir Götter, und wir wissen, dass wir es nicht sind. Wir sehen die Zerbrechlichkeit unserer eigenen Macht, und durch sie sehen wir die Zerbrechlichkeit eines jeden anderen Gliedes in der Kette. Was wäre, wenn das Spektrum sich plötzlich weigerte, meinen Befehlen zu gehorchen? Nicht schwer vorstellbar, wenn man bedenkt, welche Ränke und welcher Machthunger vonnöten sind, um eine Farbe zu werden. Was ist, wenn ein General plötzlich die Befehle seines Satrapen verweigert? Was ist, wenn ein Sohn seines Vaters Befehle verweigert? Was, wenn das erste Glied in der Großen Kette des Seins – Orholam selbst – genauso hohl ist wie jedes andere Glied vor ihm? Wenn wir die Schwäche eines jeden Gliedes sehen, denken wir, dass die Große Kette selbst zerbrechlich ist: Gewiss wird sie jeden Augenblick bersten, wenn wir nicht alles in unserer Macht Stehende tun, um sie zusammenzuhalten.«
    Gavin schluckte unwillkürlich. Er hatte den Gedanken niemals wirklich universalisiert, wie sie es tat, aber er dachte immer, sein ganzes Leben sei so. Seine Täuschungen, seine Autorität, sein eingekerkerter Bruder, seine Beziehungen. Eine Kette aus nassem Papier, erschlaffend unter ihrem durchweichten Gewicht. Eine Kette, der er jeden Tag neues Gewicht hinzufügte.
    »Ich habe Folgendes gelernt«, erklärte die Weiße. »Orholam braucht mich nicht. Oh, ich kann gute Arbeit für ihn tun, Arbeit, die ihn erfreut, und wenn ich es verpfusche, werden andere leiden. Versteht Ihr, was ich tue, zählt noch immer, aber am Ende wird Orholams Wille obsiegen. Also denke ich, dass ich noch immer Arbeit zu tun habe. Wo immer ich hinschaue, sehe ich unvollendete Angelegenheiten. Aber wenn Ihr mir sagt, dass ich an diesem Mittsommerfest befreit werden soll, werde ich das mit Freuden tun, nicht weil ich Zutrauen in Euch habe, Gavin – obwohl ich das habe, mehr als Ihr wisst –, sondern weil ich Zutrauen in Orholam habe.«
    Gavin sah sie an, als sei sie eine Besucherin vom Mond. »Das ist sehr … metaphysisch. Können wir jetzt über die Befreiung sprechen?«
    Sie lachte. »Es ist Folgendes, Gavin. Ihr erinnert Euch an alles. Ich weiß, dass Ihr das tut. Ihr denkt, ich sei jetzt verrückt, aber Ihr werdet Euch an dies hier erinnern, und eines Tages könnte es eine Rolle spielen. Und damit kann ich mich zufriedengeben.«
    Wahnsinnige oder Heilige – aber andererseits glaubte Gavin nicht, dass da ein Unterschied bestand.
    »Ich gehe nach Garriston«, sagte er.
    Sie faltete die Hände auf dem Schoß und wandte sich dem Sonnenuntergang zu.
    »Lasst mich erklären«, beeilte Gavin sich fortzufahren. Dann tat er es, wobei er die Schönheit des Sonnenuntergangs ignorierte.
    Zehn Minuten später war er fast fertig, als die Weiße einen Finger hob. Der letzte Rand der Sonne verschwand unter dem Horizont. Die Weiße hielt den Atem an, dann seufzte sie. »Haltet Ihr jemals Ausschau nach dem grünen Strahl?«
    »Manchmal«, antwortete Gavin. Er kannte Menschen, die schworen, sie hätten ihn gesehen, obwohl niemand erklären konnte, was dieser Strahl war oder warum es ihn gab, und er kannte mehr Menschen, die schworen, er sei ein Mythos.
    »Ich betrachte ihn als Orholams Zwinkern«, sagte die Weiße.
    Dreht sich denn bei ihr alles um Orholam? Vielleicht lässt sie nach.
    »Ihr habt ihn gesehen?«, erkundigte sich Gavin.
    »Zwei Mal. Das erste Mal war … vor neunundfünfzig Jahren? Nein, sechzig. Es war die Nacht, in der ich Ulbear kennenlernte.« Gavin musste sich anstrengen, um sich an den Namen zu erinnern. Oh, Ulbear Rathcore, der Gemahl der Weißen und ein ziemlich berühmter Mann zu seiner Zeit. Er war jetzt seit zwanzig Jahren tot. »Ich war bei einem Fest und ziemlich angewidert von dem betrunkenen jungen Herrn, der mich dorthin begleitet hatte und der mich ganz sicher nicht nach Hause begleiten würde. Ich ging hinaus, um ein wenig frische Luft zu schnappen. Als ich den Sonnenuntergang betrachtete, sah ich den grünen Blitz und war so aufgeregt, dass ich einen kleinen Luftsprung machte. Unglücklicherweise beugte sich dieser sehr große Bursche gerade über mich, um nach seinem Weinglas zu greifen, das er

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