Schwarzes Prisma
Prismen trotzdem mehrmals die heidnischen Reliquien niederreißen wollen, aber jedes Mal hatte die Stadt mit Krieg gedroht. Bis zum Krieg der Prismen hatte Garriston genug militärische Macht besessen, dass die Androhung eines Krieges eine beängstigende Aussicht gewesen war.
Corvan hatte sich der Liebenden noch nie bei Sonnenuntergang genähert. Wie die anderen Damen war sie in ihr Tor eingelassen. Sie lag auf dem Rücken, den Rücken über den Fluss gewölbt, die Füße fest auf der Erde, die Knie bildeten einen Turm an einem Ufer, die Hände hatte sie in ihr Haar gefädelt, und die Ellbogen erhoben sich, um den Turm am anderen Ufer zu bilden. Sie war nur mit Schleiern bekleidet, und vor dem Krieg konnte man ein Fallgitter von ihrem gewölbten Leib in den Fluss hinablassen; das Eisen und der Stahl des Fallgitters waren so in Form gehämmert worden, dass sie wie eine Fortsetzung ihrer Schleier aussahen. Aber im Krieg war das Fallgitter zerstört und nie wieder ersetzt worden.
Ihr Anblick raubte Corvan noch immer den Atem. In der untergehenden Sonne stand die dünne gelbe Luxin-Versiegelung der Statue, die normalerweise fast unsichtbar war, in Flammen. Das Gelb war wie goldene, bronzene Haut und verblasste langsam, während Corvan weiterging und die Sonne versank und schließlich nur eine einladende Silhouette zurückließ – eine Ehefrau, die im Bett auf ihren Gemahl wartete, der lange fort gewesen war.
Ein Stich durchzuckte ihn. Er konnte niemals hierherkommen, ohne an Qora zu denken, seine erste Frau. Livs Mutter. Qora hatte ihn einmal so begrüßt und bewusst die Liebende nachgeahmt, als Corvan zu ihr zurückgekehrt war; sie hatte im Bett gelegen, bekleidet nur mit Schleiern. Selbst jetzt, achtzehn Jahre später, verwoben sich in seiner Brust Trauer, unvergessenes Verlangen, Glück und Liebe miteinander. Corvan hatte in Rekton abermals geheiratet, zwei Jahre nach Qoras Tod, aber er hatte Ell eher deshalb geheiratet, um Liv eine Mutter zu geben, als aus Liebe. Drei Jahre später war Ell von einem Meuchelmörder getötet worden, der Corvan aufgespürt hatte. Corvan hatte es erwogen wegzuziehen, aber die Alkaldesa hatte ihn angefleht zu bleiben, und Kip war dort gewesen, also war er geblieben. Aber er hatte sich nicht noch einmal vermählt, nicht einmal angesichts der überwältigenden Anzahl von Frauen, die auf jeden Mann in Rekton kamen, und des ständigen Genörgels von Möchtegern-Kupplerinnen. Er konnte nicht lieben, wie er zuvor geliebt hatte. Eine weitere Frau zu verlieren, die er so liebte, wie er Qora geliebt hatte, hätte seinen Tod bedeutet, und es war nicht recht, noch eine Frau zu bitten, seiner Tochter eine Mutter zu sein, wenn er nicht bereit war, sie von ganzem Herzen zu lieben. Corvan hatte kein ganzes Herz mehr zu verschenken.
Er trottete weiter, vorbei an Bauernhöfen mit ihren mageren, aber reifenden Ernten von Dinkel und Gerste, und er versuchte, nicht die Liebende zu betrachten, die sich genüsslich vor ihm räkelte. Als er das Tor erreichte, das durch die üppigen Zöpfe ihres Haares führte, stellte er sich in die Reihe von Männern und Frauen, die auf dem Rückweg in die Stadt waren. Ihnen entgegen kamen in stetem Strom jene, die sich für die Nacht auf den Rückweg ins Umland gemacht hatten. Er hielt den Blick gesenkt, als er zwischen zwei ruthgarischen Wachen hindurchging, die während des Krieges noch auf den Knien ihrer Mütter gesessen hatten. Sie beachteten jedoch den Strom von Menschen kaum, der an ihnen vorbeizog. Einer lehnte an dem wallenden Haar der Liebenden, den Fuß gegen dessen Stein gestützt, seinen Petasos aus Stroh zurückgeschoben, den typischen, ruthgarischen breitkrempigen Hut. »… denkst du, warum er hier ist?«, fragte er.
»Versengt will ich sein, wenn ich es weiß, aber es heißt, er habe Gouverneur Crassos in die Bucht geworfen. Ich nehme an, wir werden …«
Corvan konnte nicht mehr hören, ohne stehen zu bleiben, und wenn er das tat, würde er Aufmerksamkeit auf sich lenken. Dies würde wiederum Blickkontakt bedeuten, und angesichts von Corvans Augen, die ein roter Halo zierte, war das keine gute Idee.
Also war jemand Mächtiges nach Garriston gekommen, aber wer war mächtig genug, um einen Gouverneur in die Bucht zu werfen? Corvan wusste nichts über diesen Crassos, aber die ruthgarische Königsfamilie hatte ein halbes Dutzend junger Prinzen. Höchstwahrscheinlich hatte man einen von ihnen hergeschickt, damit er beim Rückzug der Ruthgari aus
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