Schwarzes Prisma
Rahmen für dich nach Maß fertigen. Aber ohne deine Brille bist du beinahe machtlos. Ich weiß, du warst mit dem Prisma zusammen, aber er ist die Ausnahme. Er braucht keine Brille. Seine Augen entwickeln keinen Halo. Er kann so viel Magie benutzen, wie er will. Für ihn gelten die Regeln nicht. Selbst die Regeln für Prismen scheinen für ihn nicht zu gelten. Kannst du dir jemand anderen vorstellen, der hierherkommt, allein, und einfach das Kommando übernimmt? Von den Ruthgari? Und das Komische ist, sie werden es akzeptieren. Es wird ihnen nicht gefallen, aber sie werden …«
Eine Männerstimme vom Dach unterbrach sie. »Es ist mir gottverdammt egal, was in Euren Papieren steht, Ihr werdet auf keinen Fall …« Der Mann brach mit einem Jaulen ab.
Kip blickte gerade in dem Moment auf, als ein Mann an ihrem Balkon vorbeifiel. Er landete mit einem gewaltigen Spritzen tief unter ihnen in der Bucht, und Kip sah, wie er sich prustend an die Oberfläche kämpfte. Seine kostbaren Kleider blähten sich im Wasser auf. Er begann um Hilfe zu rufen.
»Das ist ungeheuerlich …!«, hörte Kip jemanden rufen, dann sah er einen weiteren Mann am Balkon vorbeistürzen. Er klatschte in die Bucht, beinahe auf den Kopf des Gouverneurs.
Es folgte eine gigantische Explosion von Licht. »Wahrhaftig, der Nächste von Euch wird nicht im Wasser landen«, sagte Gavin mit klirrender Stimme.
Kip rechnete damit, Gewehrschüsse zu hören – gewiss hatte der Gouverneur Wachen –, aber es kam nichts. Sie akzeptierten es.
Das ist mein Vater. Das ist mein Vater?
Gavin setzte seinen Willen durch, und die Welt akzeptierte es.
»Also«, sagte Kip und fühlte sich ganz ähnlich wie die Männer, die unter ihm in der Bucht zappelten, kaum in der Lage zu schwimmen und von dem verzweifelten Wunsch beseelt, aus dem Wasser zu kommen. »Also. Wille. Das ist der nächste Punkt, richtig?«
59
Corvan Danavis näherte sich Garriston bei Sonnenuntergang. Die äußeren Mauern von Garriston waren natürlich schon vor langer Zeit niedergerissen worden. Während des Kriegs der Prismen – Corvan hatte es für sich niemals als den Krieg des Falschen Prismas bezeichnet – hatte er befohlen, den Wiederaufbau in Angriff zu nehmen, aber die Zeit war einfach zu knapp gewesen. Die äußeren Mauern waren eine Anlage zum Schutz einer Stadt mit Hunderttausenden von Bewohnern gewesen. Zur Zeit des Krieges waren es vielleicht noch neunzigtausend gewesen, aber nicht einmal sie alle zu beschützen war ihm gelungen.
Die Bewässerungskanäle, die alles Land zwischen den äußeren Mauern und den inneren hätten bewässern sollen, waren bis auf einen oder zwei zerstört. Aber die inneren Mauern standen noch, ebenso wie die Weißen Damen.
Die Damen, die inzwischen kaum noch jemand mit der alten Göttin Anat in Verbindung brachte, bewachten jedes Tor. Jede Dame war eine riesige weiße Statue und in die Mauer selbst eingelassen. Jede hatte einen Aspekt von Anat repräsentiert: Der Koloss, der mit gespreizten Beinen die Hafeneinfahrt überspannte, war die Wächterin; die Mutter bewachte das Südtor, hochschwanger, trotzig und mit einem Speer in der Hand; die Alte bewachte das Westtor, schwer auf einen Stab gestützt; die Liebende lag quer über dem Flusstor im Osten. Aus Gründen, die sich Corvan niemals erschlossen hatten, wurde die Liebende etwa in ihren Dreißigern dargestellt, während die Mutter als sehr jung erschien, vielleicht noch keine zwanzig. Jede war aus dem teuersten, leicht durchscheinenden weißen Marmor gemeißelt, wie er nur in Paria zu bekommen war. Die Statuen waren glücklicherweise mit dem feinsten, versiegelten gelben Luxin bedeckt worden – alles aus einem Guss. Eine erstaunliche Arbeit. Die Stadt war mindestens dreimal eingenommen worden, und noch immer waren die Damen unversehrt, selbst nach der feurigen Vernichtung des großen Brandes.
Anat, die Herrin der Wüste, die Feurige, die Infrarote, war die Göttin aller heißen Leidenschaften gewesen: des Zorns, des mütterlichen Schutztriebs, der besitzergreifenden Liebe und der wilden Geschlechtslust. Als Lucidonius die Stadt für Orholam eingenommen und den Kult ausgelöscht hatte, hatten seine Gefolgsleute die Statuen niederreißen wollen, wozu, zugegebenermaßen, einige mächtige Wandler vonnöten gewesen wären. Lucidonius hatte sie daran gehindert mit dem berühmt gewordenen Ausspruch: »Reißt nur das nieder, was falsch ist.« In den seither vergangenen Jahrhunderten hatten inbrünstige
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