Schwarzes Prisma
der Fall war.
»Ja«, antwortete Liv. Es gab keinen Grund zu lügen. Aus Rekton kam rein gar nichts. Außerdem musste Aglaia eine Akte haben, in der stand, woher Liv kam. »Es ist eine kleine Stadt. Bedeutungslos.«
»Wer ist Lina?«
Was? »Sie ist eine Kellnerin. Katalina Delauria. Nimmt Gelegenheitsarbeiten an.« Eine Süchtige, eine Schande und ein Albtraum von einer Mutter. Aber das brauchte Aglaia nicht zu wissen, und Liv würde kein schlechtes Wort über die Leute daheim verlieren.
»Irgendwelche Angehörigen?«
»Nein«, log Liv. »Sie hat sich nach dem Krieg in Rekton niedergelassen, wie mein Vater und ich es getan haben.«
»Also ist sie keine Tyreanerin?«
»Ihr meint, ursprünglich? Ich weiß es nicht. Vielleicht hat sie etwas parianisches oder ilytanisches Blut«, antwortete Liv. »Warum?«
»Wie sieht sie aus?«
Zu mager, mit blutunterlaufenen Augen und schlechten Zähnen vom Nebel-Rauchen. »Hochgewachsen, kurzes krauses Haar, mahagonifarbene Haut, verblüffend blaue Augen.« Jetzt, da Liv darüber nachdachte, war Lina wahrscheinlich einmal eine echte Schönheit gewesen.
»Und Kip? Wer ist er?«
Oh, Hölle, erwischt. »Äh … ihr Sohn.«
»Oh, dann hat sie also doch Angehörige?«
»Ich dachte, Ihr meintet Angehörige der Familie, aus der sie stammt.«
»Natürlich«, sagte Aglaia. »Wie alt ist Kip?«
»Ich schätze, er ist jetzt fünfzehn.« Kip war nett, obwohl bei Livs letztem Besuch daheim offenkundig geworden war, dass er schrecklich in sie vernarrt war.
»Wie sieht er aus?«
»Warum wollt Ihr all diese Dinge wissen?«, fragte Liv.
»Beantwortet die Frage.«
»Ich habe ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich sieht er jetzt vollkommen anders aus.« Liv warf die Hände hoch, aber Aglaia gab nicht nach. »Ein wenig pummelig. Etwas kleiner als ich, als ich ihn das letzte Mal gesehen habe …«
»Um Orholams willen, Mädchen, seine Augen, seine Haut, sein Haar!«
»Nun, ich weiß nicht, wonach Ihr sucht!«
»Jetzt wisst Ihr es«, erwiderte Aglaia.
»Blaue Augen, mitteldunkle Haut, nicht so dunkel wie die seiner Mutter. Krauses Haar.«
»Ein Halbblut?«
»Ich schätze, ja.« Obwohl Liv nicht hätte sagen können, aus welchen Hälften Kip zusammengesetzt war. Parianer und Atashi? Ilytaner und Blutwäldler? Etwas anderes? Wahrscheinlich keine einfachen Hälften, was immer er war. »Halbblut« war jedoch eine abfällige Beschreibung und absolut ungerecht. Die besten Familien und Edelleute in den Sieben Satrapien führten viel häufiger Mischehen als das gemeine Volk, und sie wurden niemals als Halbblüter bezeichnet.
»Aber er hat blaue Augen. Das ist interessant. In deiner Stadt gibt es nicht viele mit blauen Augen, oder?«
»Mein Vater hat blaue Augen. Unter den Menschen, die sich nach dem Krieg in Rekton angesiedelt haben, gibt es einige mit blauen Augen, aber nein, sonst sind wir wie der Rest von Tyrea.«
»Ist er ein Wandler?«
»Natürlich ist er das. Mein Vater ist einer der berühmtesten Rot …«
»Nicht Euer Vater, Idiotin. Kip.«
»Kip? Nein! Nun, jedenfalls nicht, als ich ihn das letzte Mal sah. Er war damals zwölf oder dreizehn.«
Aglaia lehnte sich zurück. »So wie Ihr Euch heute aufgeführt habt, sollte ich Euch eigentlich im Dunkeln tappen lassen, aber dann wäre die Wahrscheinlichkeit noch größer, dass Ihr alles noch mehr durcheinanderbringt, als Ihr es ohnehin bereits tut. Ich habe einen Auftrag für Euch, Liv Danavis. Es hat sich herausgestellt, dass meine Bestrafung, die darin besteht, dass ich Euch führen muss, ein verkapptes Geschenk Orholams ist. Wir haben einen Brief abgefangen, den diese Frau, Lina, an das Prisma geschrieben hat.«
»Sie hat was getan?«
»Sie hat behauptet, Kip sei sein Bastard.«
Liv lachte, es war derart lächerlich. Aglaias Gesicht sagte, dass sie keinen Scherz machte.
»Was?!«, fragte Liv.
»Sie schrieb, sie liege im Sterben, und sie wollte, dass Gavin seinen Sohn Kip kennenlernt. Wir wissen nicht, ob dies ihre erste Kontaktaufnahme war oder nicht. Aber sie hat um nichts gebeten und ihn auch nicht bedroht. Kip ist im richtigen Alter, und Gavin hatte blaue Augen, bevor er das Prisma wurde. Der Rest ist ungewiss, aber der Brief war so formuliert, als entspreche es der Wahrheit. Als würde Gavin sie kennen.« Aglaia lächelte. »Liv, ich werde Euch eine Chance auf ein besseres Leben geben, und ich hoffe, ich brauche Euch nicht zu sagen, dass es bereits in meiner Macht liegt, Euch ein viel schlimmeres
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