Schwedenbitter: Ein Hamburg-Krimi (Droemer) (German Edition)
auch wenn sie tot ist, wirkt sie, als würde sie gleich aufspringen, weil sie vergessen hat, Kekse anzubieten.
Der zermatschte Walt wirkt nicht so. Walts Leiche sieht aggressiv aus, als wolle sie immer noch jedem und allem eine verpassen, und dann wächst da aber kein Gras mehr, Mann. Sein kariertes Hemd spannt über breiten Fast-Food-Hüften und einem mächtigen Brustkorb. Er trägt keine Hosen, sondern Shorts. Im November. Aus den Shorts kucken dicke, haarige Beine hervor. Lorraine musste sich das Tag für Tag anschauen.
So ätzend ich die Tuckers vermutlich gefunden hätte, irgendwie rühren die mich. Ich sehe sie an, und etwas auf dem Fußboden meines Herzens fängt an zu rascheln.
»Chef?«
Der Calabretta. Ich räuspere mich und muss husten.
»Was machen Sie da?«, fragt er.
Ich kucke, denke ich. Und ich frage mich wieder mal, was wohl aus mir geworden wäre, wenn mein Vater nicht mit mir in Deutschland geblieben wäre. Wenn wir zusammen in North Carolina gelebt hätten. Wenn ich wirklich Amerikanerin wäre. Südstaatenamerikanerin. Wenn ich ein Land hätte. Wenn da mehr wäre als nur mein Name.
»Nichts«, sage ich und räuspere mich, »gar nichts.«
Ich warte, bis alle sich wieder mit was auch immer beschäftigen. Dann mache ich einen polnischen Abgang und verschwinde im Treppenhaus. Es ist ein hartes Treppenhaus. Furchtbar schmutzig. Die Holzstufen sind abgewetzt und teilweise so abgetreten, dass ich immer wieder abrutsche und den Weg nach unten fast auf der Nase mache. Es ärgert mich, wenn Dinge so verrotten. Wenn Menschen Häuser einfach kaputtgehen lassen. Alte Häuser haben eine Seele. Um die muss man sich doch kümmern. Hier hat sich niemand gekümmert, seit Jahren nicht. Die Tuckers waren die letzten Mieter in der ganzen Bude, und die eine von den beiden Erdgeschosswohnungen hat nicht mal mehr eine Tür. Da hängt ein Sack, der von innen an den Türrahmen genagelt worden ist. Ich schiebe den Sack zur Seite und gehe rein. Keiner da. Aber wenn es dunkel wird, sind hier wohl eine Menge Leute, die das Loch als Zuhause benutzen. In fast jeder Ecke jeden Zimmers liegt ein ranziger Schlafsack oder eine alte Decke oder eine fleckige Matratze. Manche von den Fenstern sind noch ganz, manche nicht. Die sind dann einfach weg, da ist nicht mal eine Plastiktüte oder so was vorgeklebt.
Der Calabretta hat gesagt, er glaubt, dass es auch einer von den Leuten hier gewesen sein muss, der die Tuckers entdeckt und die Polizei angerufen hat, anonym natürlich. Er geht davon aus, dass wir von denen keinen finden, dass die hier nie wieder aufkreuzen werden. Wenn irgendwo gestorben wurde, halten sich Menschen ohne Wohnung da nicht mehr gerne auf.
Ich bleibe noch eine Minute in einem der ehemaligen Zimmer stehen. An einer Wand hängt ein Bild. Windjammer vor heruntergerissener Tapete.
Niemand kümmert sich. Niemand.
*
Der Himmel hat dieses spezielle, etwas dunkle Herbstblau, das den Winter ankündigt. Das kommt von den Wolken. Die sind schwerer als im Frühling und im Sommer, die haben eine andere Qualität. Mehr Gewicht, mehr Bumms in den Backen. Sie sind eher beige als weiß, und das wirkt sich natürlich auf den Himmel aus. Und auch, wenn die Sonne da ist, hat sie die Dunkelheit immer schon im Gepäck. Der Hamburger Novemberhimmel ist ein aufdringliches Ding in Moll, ein sentimentales, dramatisches Gebilde, aber das darf man nicht so ernst nehmen. Tut der Himmel ja selber nicht.
Ich laufe zum S-Bahnhof Wilhelmsburg und nehme mir da ein Taxi. Wichtig, wenn man eh schon angeschlagen ist: niemals den öffentlichen Nahverkehr nutzen, schon gar nicht die Linie S 3, schon gar nicht südlich der Elbe, denn danach steht man ganz sicher nicht mehr auf.
*
Tagsüber zu Hause zu sein ist dermaßen nichts für mich. Ich tu mich ja sowieso schon schwer mit zu Hause sein. Und dann auch noch tagsüber. Und dann auch noch im Bett liegen. Noch fünf Minuten, und ich werde depressiv. Ich rufe den Calabretta an.
»Sie liegen hoffentlich im Bett und rühren sich nicht«, sagt er.
»Ja«, sage ich. »Es ist schrecklich.«
»Genau richtig«, sagt der Calabretta. »Und Finger weg von den Kippen. Sie bringen sich noch um, Chef.«
»Ist doch nur eine alte Bronchitis«, sage ich und huste in meine Armbeuge.
»Auf dem Weg zur Lungenentzündung«, sagt der Calabretta.
Auf dem Weg in die Hölle, denke ich und zünde mir eine Zigarette an.
»Wir haben erste Ergebnisse aus der Pathologie«, sagt er. »Die Tuckers waren schon so gut
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