Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
sozial schwächeren Schichten fern. Bis sie sich zum ersten Mal verliebte.
Bis heute war dies eine Konstante in Hannas Leben geblieben: Ihre Partner waren immer sanftmütige und wenig ehrgeizige Männer gewesen, mit einem Charakter, der von dem ihres Vaters so weit entfernt war wie der Nord- vom Südpol. Es war ihre Art der Rebellion gewesen. Sie hatte Schläge dafür hingenommen, war verstoßen und wieder aufgenommen worden und hatte sich schließlich zum großen Zorn ihres Vaters in ein Publizistikstudium gestürzt. Er wollte sie als Chefärztin oder Richterin sehen. Sie wollte schreiben.
Heute war die Beziehung zu ihren Eltern ein Balanceakt. Sie hatten sich zusammengerauft. Aber erwachsen war sie in deren Augen nie geworden. Für die beiden war Hanna eine Versagerin geblieben. Das Leben ihrer Eltern … Hanna hatte Jahre damit zugebracht, nach dem Warum zu fragen. Eine Antwort hatte sie nicht bekommen.
Sie stieg aus der Badewanne und wickelte sich in ihren flauschigen Frotteemantel. Sauber, duftend und aufgewärmt, fühlte sie sich schon viel besser. Barfuß tapste sie aus dem Bad. Ihr Blick fiel auf das Saxophon, den Kleiderhaufen und ihren Rucksack, den sie achtlos auf den Boden ihres Pensionszimmers geworfen hatte. Als sie ihn aufhob und den Inhalt auf das Bett leerte, klingelte das Handy.
Sven,
zeigte das Display. Wer sonst. Sie zögerte. Sollte sie ihm von der Leiche erzählen? Er war ein hervorragender Zuhörer und stets verständnisvoll.
Nein.
So schlimm war es dann auch wieder nicht.
Sie drückte den Anruf weg und setzte sich mit dem Notizbuch und der Kamera an den kleinen Tisch. Dann öffnete sie den Laptop, verband ihn mit dem Fotoapparat und lud die Bilder herunter. Die wenigen Aufnahmen vom Vormittag waren gut gelungen. Das Notizbuch enthielt nur vereinzelte Stichworte:
Rabenschlucht;
Hinrichtung, was für eine?;
glitschiger Weg, nicht gesichert;
keine Ausschilderung;
Quelle?
Sie dachte kurz nach und schrieb dann
Leiche auf Lichtung
ans Ende der Liste. Dann strich sie den letzten Eintrag durch und notierte:
Leiche an alter Gerichtsstätte?
War das ein Zufall? Hanna steckte den WLAN -Stick in den Rechner, loggte sich ins Internet ein und rief Google auf. Irgendetwas musste doch zu finden sein. Sie spürte ein leichtes Kribbeln im Bauch, ein sicheres Zeichen dafür, dass ihr vernachlässigter Recherche-Instinkt und die Freude am Aufdecken alter Geschichten wieder erwachten.
Hanna klickte sich durch Hunderte von Webseiten, studierte Fotos, stöberte in Ortsbeschreibungen und Sagen. Nichts. Auch andere Suchmaschinen lieferten nur Einträge, die sie entweder schon kannte oder die sich in ellenlangen geologischen Abhandlungen verloren. Ihre Augen tränten, und sie gähnte. Es war bereits nach Mitternacht. Als sie gerade den Rechner zuklappen wollte, erinnerte sie sich an eine Reportage, die sie vor längerer Zeit für ein Geschichtsmagazin redigiert hatte.
Hexen, Henker, Scharlatane
war der Titel des Beitrags gewesen, der sich mit frühneuzeitlichen Folter- und Hinrichtungsmethoden beschäftigt hatte. Hm. Auf gut Glück googelte sie nacheinander
erhängen
und
enthaupten
ein, versuchte es dann mit
vierteilen
,
rädern
,
ertränken
,
ausweiden
und
ausdärmen
. Wieder nichts Hilfreiches. Sie ergänzte verschiedene Jahrhunderte als Suchwörter. Schließlich kombinierte sie alle Begriffe mit
Hinrichtung
,
Gerichtsstätte
,
Halsgerichtsordnung, Rabenschlucht
und dem Namen des Dorfes. Treffer! Zwei Links erschienen als Ergebnis.
Sie brachte ihr Gesicht dicht vor den Monitor und kniff die Augen zusammen. Jemand hatte einen alten Zeitungsartikel aus einem Lokalblatt eingestellt. Die Schrift war klein und ließ sich nicht größer zoomen. Hanna hatte Mühe, den Text zu entziffern:
Der Geist in der Rabenschlucht.
Südbaden. Im 18. Jahrhundert erlangte die Rabenschlucht im mittleren Schwarzwald traurige Berühmtheit: Eine Hinrichtung erschütterte damals das kleine Dorf an ihrem Fuße. Die Faktenlage ist indes dürftig, und so weiß heute niemand mehr, wer der Henker und wer das Opfer war. Angeblich wurde ein Mann bei der Quelle gehängt, dem höchsten Punkt der Schlucht. Diese gilt deswegen als Gerichtsstätte. Gerüchten zufolge soll es sich jedoch um ein Verbrechen jenseits von Recht und Gericht gehandelt haben. Ein Mord? Die älteren Mitbürger jedenfalls fürchten sich bis in unsere Tage: Sie erzählen vom Geist des Opfers, der seit der Tat durch die Schlucht spukt. Ein 83-jähriger Landwirt berichtete
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