Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
gesprochen. Was wollen Sie noch?«
Ehrlinspiel nahm am Tisch Platz. »Ich will Sie nicht mit Fragen quälen, aber Sie und Ihre Familie können uns möglicherweise helfen, den Mörder Ihrer Tochter zu finden.« Er legte seinen Notizblock vor sich hin.
»Mich quälen Sie nicht. Nicht mit Elisabeth. Sie ist für uns schon lange tot.«
Ehrlinspiel musterte die Frau mit den kurzen, graumelierten Haaren. Ihr Gesicht erinnerte ihn an eine handgeschnitzte Holzmaske, wie sie manche traditionellen Narrenvereine noch trugen. Grob, verhärtet und bedrohlich, ohne Mimik. Das Ergebnis einer tiefen emotionalen Verletzung? Oder war Elisabeths Mutter schon immer so gewesen? Laut Informationen des Einwohnermeldeamts war sie erst sechsundfünfzig.
»Sie haben Ihre Tochter, die Sie seit Anfang 2000 nicht gesehen haben, abgewiesen. Warum? Was ist passiert?«
»Nichts ist passiert. Außer dass sie als Jugendliche einfach abgehauen ist. Ohne ein Wort. Ohne Erklärung. Ohne sich je dafür zu entschuldigen. Können Sie sich vorstellen, welche Sorgen sie uns bereitet hat?«
»Hatten Sie in den letzten Tagen Kontakt zu ihr?«
»Nein.«
»Warum nicht? Haben Sie sich denn gar nicht gefreut, dass sie … noch lebte und es ihr gutging? Und dass Sie Großmutter werden würden?«
»Ich bin schon Oma.« Sie nickte erst ihrer Schwiegertochter zu, die mit verschränkten Armen neben der Spüle lehnte, dann ihrem Sohn. »Meine beiden Enkel bringen genügend Leben in unser Haus.«
»Anna und Tobi sind im Kindergarten«, erklärte Renate Sommer. »Na ja, eher in einer Art Spielgruppe. Mein Mann hat die Kinderbetreuung im Dorf angeregt.« Sie lächelte Hermann Sommer an. »Das war eine kleine Revolution. Es ist gut, dass er Bürgermeister ist.«
»Kinderbetreuung interessiert den Herrn Kommissar wohl nicht.« Frieda Sommer bewegte kaum einen Muskel beim Sprechen.
Renate blieb ruhig. »Alles kann wichtig sein. Oder?«
»Das stimmt«, nickte Ehrlinspiel. »Aber nun würde ich gern wissen, wer von Ihnen in den letzten Tagen mit Elisabeth gesprochen hat. Und worüber. Warum ist sie zurückgekommen?«
Niemand antwortete.
Ehrlinspiel stand auf. »Keiner hat mit ihr geredet? Das kann ich fast nicht glauben.« Er ging in der Küche hin und her. Mit dem Rücken zum Fenster blieb er stehen. »Wer von Ihnen hatte Kontakt zu ihr, seit sie damals weggegangen ist?«
»Von mir wissen Sie schon alles«, sagte Hermann leise, »und meine Mutter hat sie auch nicht gesehen, bis sie … tot war.« Seine Schultern bebten, und Ehrlinspiel hatte den Eindruck, dass er alle Kraft zusammennehmen musste, um nicht vor seinen Eltern und seiner Frau zu weinen.
»Gestern, als sie nicht zur Geburtstagsfeier erschien, was haben Sie da unternommen?«
Hermann sah bekümmert zu Joseph Sommer. »Wir haben alles wieder abgeräumt. Mein Vater wollte nicht ohne Elisabeth feiern.«
»Sie haben aber nicht versucht, bei ihr anzurufen? Oder sie gesucht?«
»Nein … Wir konnten doch nicht ahnen … Wie hat er sie eigentlich …?«
»Wie sie gestorben ist? Sie wurde vermutlich mit einem Stein erschlagen.« Verschweigen konnte er dieses Täterwissen nicht. Innerhalb von Familien blieb selten taktischer Spielraum. Der Mord selbst, dachte er, deutet auf eine spontane Handlung unter hoher emotionaler Anspannung des Täters hin. Ausgeführt mit den Mitteln, die ihm gerade zur Verfügung gestanden hatten. »Wir müssen die Obduktion abwarten.« Er wandte sich zu Renate Sommer. »Haben Sie Ihre Schwägerin seit Montag gesehen oder gesprochen?«
»Nun ja, ganz kurz, als ich am Dienstagvormittag einkaufen war. Wir haben uns zufällig im Laden getroffen, aber kaum miteinander geredet. Außer ›Hallo, wie geht’s?‹ und ›Danke, gut, wir sehen uns ja an Josephs Geburtstag.‹ war da nichts. Wir wussten einfach nicht, was sagen.«
»Joseph, das sind Sie?« Ehrlinspiel sah zu dem Alten am Tisch. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage, um den Mann aus seiner Sprachlosigkeit zu locken.
Der Angesprochene nickte beinahe unmerklich.
»Haben Sie Ihre Tochter noch gesehen? Zwischen Montag- und Mittwochabend?«
Joseph holte tief Luft, und ein rasselnder Laut drang aus seiner Brust. Seine Stimme war rauh wie Sandpapier. »Ich hab ihr nichts getan.« Seine ungleichmäßigen Bartstoppeln bildeten beim Sprechen ein bizarres Muster mit den mäandernden blauen Äderchen auf seinen Wangen und der Nase. »Bin gut ausgekommen mit ihr.«
»Gut ausgekommen«, echote Frieda Sommer und
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