Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
geht. Ein lieber Kerl«, er fuchtelte mit der Hand ein paarmal vor seinem Gesicht hin und her, »aber etwas durchgeknallt.«
»Hey, Willi, was wird ’n das?«, kam es aus einer Ecke.
»Schon gut, Anton. Noch ’n dunkles Hefe?«
»Immer her damit.«
Der Wirt schenkte das Weizenbier ein. »Der Bruno, der hat eine eigene Bibliothek. Lauter Bücher voller Formeln. Chemie und Biologie. Mit dem sollten Sie sich mal unterhalten. Da können Sie Ihre Klugheit testen.« Er grinste feist und trug das Bier zu Anton.
Ehrlinspiel spießte derweil eine Kartoffel auf und wendete sie in der Soße. »Und die Eltern?«, fragte er, als der Wirt wieder zurückkehrte.
»Der Vater ist ein schüchterner Kauz. Aber die Mutter …«
»Was ist mit der?«
»Wegen ihr kam Elisabeth zu mir. Sie hat die eigene Tochter der Tür verwiesen. Frieda Sommer ist eine von denen, die Elisabeth nicht mochten.«
[home]
4
D as Wasser schwappte über ihrem Gesicht zusammen. Sie ließ sich sinken, spürte, wie ihr Haar den Kopf umspielte und sanft an die Oberfläche trieb. Sie fühlte sich leicht, körperlich und gedanklich, losgelöst von all den Dingen, die ihr in den letzten Monaten begegnet waren. Wohltuende Wärme durchflutete sie, floss vom Nacken den Rücken hinab, breitete sich in ihren Beinen und Armen bis in ihre Fingerspitzen aus. Dann bekam sie keine Luft mehr.
Hanna schoss nach oben. Sie prustete, und kleine Flocken weißen Badeschaums stoben davon. Sie strich sich die Haare nach hinten und atmete ein paar Mal tief durch.
Ihre Gedanken drehten sich. Sie war auf einen ruhigen Nachmittag eingestellt gewesen. Nach der anstrengenden Wanderung ein bisschen arbeiten und den Auftrag voranbringen, ihre Freundin anrufen, ein paar E-Mails schreiben. Wieder auf den Boden der Realität zurückkommen und nach neuen Zielen suchen. Und jetzt das. Eine Leiche. Eine heruntergekommene Kneipe. Und ein Bulle, der sie erst stundenlang warten ließ und dann taxierte wie ein Jäger seine Beute. Na, danke!
Sie ließ warmes Wasser nachlaufen und rieb ihre helle Haut mit Lavendelseife ein. Hanna war waschechte Hamburgerin und mit Leib und Seele Großstadtkind. Ihr Temperament aber ähnelte durchaus dem einer Südländerin. Und normalerweise fürchtete sie sich vor gar nichts.
Heute aber hatte Panik sie ergriffen. Sie hätte schwören können, dass sie oben auf der Lichtung beobachtet worden war. Doch sicher war das nur ein Hirngespinst gewesen, ausgelöst durch den ersten Schrecken. Wenn aber nicht … War sie dann in Gefahr? Vielleicht glaubte der Mörder, sie habe ihn gesehen? Blödsinn, beruhigte sie sich, ich bin zu ängstlich.
Ihr Vater wäre natürlich derselben Meinung. Mädchen, würde er mit herausgedrückter Brust erklären, du bist zu weich. Du hättest die Stellung halten sollen, dem Mörder ins Gesicht sehen und ihn niederstrecken! Mit Schwäche kommst du nicht weit! Feigheit geht unter! Zeige Schneid, du bist schließlich eine Brock!
Dann würde sie ihm zum hundertsten Mal darlegen, dass sie Waffen verabscheute und schon gar keine bei sich trug, sich mit ihm über die Werte der Erziehung und Gesellschaft streiten. Ihre Mutter würde dem Vater schon aus Prinzip zur Seite stehen, und Hanna würde frustriert die Tür hinter sich zuschlagen. Er hätte nichts verstanden.
Wie immer.
Hannas Vater war mit äußerster Härte auf einer Militärschule erzogen worden. Seine Ausbilder prophezeiten ihm eine glänzende Zukunft im Dienste des Verteidigungsministeriums. Doch ein Hüftleiden machte seine Offizierskarriere zunichte, und so wurde er Oberstudiendirektor an einem privaten Eliteinternat. Was er einem nie gezeugten Sohn an Drill hätte beibringen wollen, trichterte er nun tagsüber seinen Schülern und abends seiner Tochter ein. Seine Schmerzattacken ließ er an der Familie aus. Er schrie. Tobte. Und kommandierte, wenn die Medikamente ihn genügend benebelt hatten, die Mutter und Hanna wie Dienstbotinnen durch die Villa. Ehrfurcht hatte er nur vor hochrangigen Staatsbeamten und Militärangehörigen. Niemand wagte es, sich gegen seine Schikanen zu wehren. Die Mutter sagte zu allem ja und schloss sich seinen Vorschriften kritiklos an. Wir tun, was Vater sagt!
Das kleine Mädchen folgte brav. Ging morgens adrett gekleidet in den Kindergarten und später zur Schule, paukte täglich zwei Stunden Latein und Geschichte. Hanna brachte Spitzennoten in Mathematik und Physik nach Hause, ging zum Ballett, zur Klavierstunde und hielt sich von Kindern aus
Weitere Kostenlose Bücher