Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
gegenüber unserem Reporter von einem schaurigen Heulen und Rufen und beteuerte, dass der Geist Rache fordere. Leibhaftig begegnet ist dem Gespenst allerdings noch niemand.
Hanna war mit einem Schlag hellwach. Natürlich war die Sache mit dem Geist Humbug. Aber ein längst verjährter Mord genau dort, wo sie selbst heute eine Leiche gefunden hatte … Das konnte ein echter Knüller werden!
Sie öffnete ein Fenster und zündete sich eine Zigarette an. Aus dieser Sache musste sie etwas machen! Hanna zurrte den Frotteegürtel des Bademantels fester und blickte auf die spärlich beleuchtete Straße hinunter. Eine dicke Frau watschelte mit einem Dackel vor der Pension auf und ab.
Sie würde eine Reportage schreiben und diese an ein renommiertes Magazin verkaufen. Würde das Dorf porträtieren, Interviews mit geschichtlichem Hintergrund liefern und … Sie ließ eine Hand auf das Fensterbrett fallen. Das würde nicht hinhauen. Sie konnte noch so brillant sein, ihre Artikel würde niemand mehr veröffentlichen.
Verfluchtes Walross!
Der Hund hob ein Bein und pinkelte an eine Laterne.
Nun gut. Dann würde sie die Story eben anders verwerten – für ihren Wanderführer.
Mit der Schnauze am Boden umkreiste der Dackel einen Baum.
Einen
Mordweg
würde sie einbauen. Eine Tour um die Rabenschlucht herum. Sozusagen als Extra-Anreiz neben den üblichen Wanderrouten und Sehenswürdigkeiten. Alter Mord – neuer Mord. Dorf damals – Dorf heute. Die Idee erschien Hanna immer besser, je länger sie darüber nachdachte. Und sie liebte es, sich verrückte Dinge auszumalen. Man konnte ja nie wissen, was daraus wurde. Sie könnte mögliche Zusammenhänge der Verbrechen aufzeigen, die Motive der Mörder analysieren und die Opfer literarisch auferstehen lassen. Das Ganze würde sie
Schwarze Route
nennen und das Konzept nicht nur mit Worten vermarkten. Hanna sah schon alles vor sich: die Wegweiser, gesponsert und aufgestellt von den Gemeinden, die Schilder an den entscheidenden Wegknotenpunkten und die Touristenmassen, die dank ihres Buchs endlich Leben in die langweilige Provinz brachten. Ihr Wanderführer würde ein Bestseller werden!
Mit Schwung warf sie die Zigarette nach draußen, schloss das Fenster und zerrte ihre Koffer unter dem Bett hervor.
Sie musste der Geschichte auf den Grund gehen!
[home]
5
Freitag, 20. November
D ie klamme Morgenluft schlug ihm entgegen, und Moritz Ehrlinspiel fröstelte unwillkürlich. Doch er genoss die Milliarden winziger Tropfen, mit denen der Nebel kühl sein Gesicht benetzte. Sie vertrieben die Müdigkeit aus seinem Kopf, und er hoffte, dass bei einem kurzen Fußmarsch auch der Rest seines Körpers vollends erwachen würde. Die Kissen, auf denen er die Nacht verbracht hatte, schienen mit Kieseln gefüllt zu sein, und die Stahlfedern der dünnen Matratze hatten sich in seinen Rücken gebohrt wie Korkenzieher. Zusammen mit den wirren Grübeleien hatten sie ihn an einem erholsamen Schlaf gehindert. In seinem linken Ellbogen fühlte er schwach das Reißen, seit vielen Jahren sein treuer Begleiter bei nasskaltem Wetter.
Der Kriminalhauptkommissar blickte die Straßen entlang. Gegenüber der
Heugabel
mit ihrem kleinen Parkplatz lagen eine kleine Kirche und der Friedhof, ein Platz mit großen Bäumen und zwei Bänken schloss sich rechts an. In den anderen Richtungen reihten sich ältere Häuser aneinander, allesamt mit großzügigen, vorwinterlich brachliegenden Gärten und Stallungen. Die Fassaden wirkten trostlos unter den schweren Regenwolken, die ihre Last jeden Moment auszuschütten drohten. Die Jalousien der Häuser waren hochgezogen, und Ehrlinspiel stellte sich vor, wie die Menschen nach der Frühfütterung des Viehs mit dampfenden Tassen und knusprigem Brot beim Frühstück saßen, den trüben Tag ausgesperrt. Doch vermutlich war die Stimmung der Einheimischen heute alles andere als gemütlich, und wie ihm würde auch manchem von ihnen das Brötchen schal und der Kaffee bitter schmecken. Ehrlinspiel sehnte sich nach frischem Toast und einem Cappuccino bei Idris, der – von Haus aus eigentlich Syrer – die beste italienische Cafébar Freiburgs betrieb. Und der einen Milchschaum zauberte, der seinesgleichen suchte.
Sein Zimmer in der
Heugabel
war gerade einmal so groß wie das Badezimmer seiner heimischen Loftwohnung. Ein Waschbecken in der Ecke, ein Stuhl mit Minitisch in der anderen und in der dritten ein eintüriger Spind. Zur Straße hin gab es ein kleines Fenster. Die Dusche,
Weitere Kostenlose Bücher