Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
ein lauwarmes Rinnsal, lag auf dem Flur, zur gemeinsamen Nutzung mit einem Gast aus dem Nebenzimmer – das nach der Freigabe durch die Spurensicherung jetzt leer stand und in dem Elisabeth die beiden letzten Nächte ihres jungen Lebens verbracht hatte.
Ehrlinspiel nahm die Kirchstraße rechter Hand. Nun konnte er genauer in Augenschein nehmen, wohin es ihn am Abend zuvor verschlagen hatte. Trauerweiden und kahle Birken säumten die Straße, als wollten sie dem frühen Morgen noch einen zusätzlichen Hauch Düsternis verleihen.
Ein Ladengeschäft lag geschlossen, doch aus einer kleinen Bäckerei duftete es verlockend, und innen herrschte bereits reges Treiben. Ein Traktor dröhnte an ihm vorbei, er sammelte die großen Milchkannen vor den Häusern ein. Ehrlinspiel lief bis zu der Kreuzung, an der er gestern aus südlicher Richtung ins Dorf gekommen war. Dort zweigte er rechts in den Wiesenbruch ab, passierte einige Häuser und erreichte nach dem Straßenknick den freien Feldweg, der ihn zum Sommerhof führte.
Um das Anwesen herum schoben sich Bänke von Frühnebel über sanft gewölbte Obstbaumwiesen und Weiden. Jetzt, bei Tageslicht, fiel Ehrlinspiel auf, wie gepflegt die Gebäude waren und wie hübsch sich der Außenbereich selbst zu dieser Jahreszeit zeigte. Die Fassade war leuchtend weiß, die obere Hälfte bis zum Dach mit dunklem Holz verkleidet. Die blauen Klappläden waren mit Lamellen durchsetzt, und vor den Fenstersimsen hingen Blumenkästen im selben Farbton. Der Hauptkommissar kannte sich mit Pflanzen nicht aus, doch die Blumen, die das Haus und den Weg zum Eingang schmückten, deuteten auf Besitzer hin, die das Schöne zu schätzen wussten. Kugelig getrimmte Grünsträucher trennten den Hofbereich vom Garten, und die Beete waren sorgfältig mit Zweigen und Mulch abgedeckt.
Hermann Sommer öffnete ihm.
Der scharfe Geruch von Putzmittel stach Ehrlinspiel in die Nase, und noch während ihm der abwegige Gedanke durch den Kopf schoss, die Familie habe die Tragödie über Nacht quasi wegwaschen wollen, fragte der Bürgermeister: »Haben Sie schon etwas herausgefunden?« Der Bruder der Toten war unrasiert, tiefe Ringe unter den Augen verrieten, dass er kaum besser geschlafen hatte als der Hauptkommissar selbst.
»Leider nein. Aber wir arbeiten auf Hochtouren.« Kinderschuhe und große Stiefel reihten sich an einer Wand, und neben einem wuchtigen Spiegel mit verschnörkeltem Holzrahmen hingen Mäntel und Jacken. »Heute Mittag rechnen wir mit ersten Ergebnissen von den Technikern und der Rechtsmedizin. Jetzt müssen wir zunächst mit allen reden, die Ihre Schwester kannten.«
Sommer bat Ehrlinspiel in die Wohnküche. Sie war quadratisch und erstreckte sich von der Vorder- bis zur Rückseite des Hauses. Um einen großen Tisch saßen ein älteres Paar und eine junge Frau, die Ehrlinspiel als Einzige entgegenblickte. Ihr langes hellbraunes Haar war locker hochgesteckt. Die Ältere betrachtete ihre zusammengefalteten Hände, die aus den Rüschen einer cremeweißen Bluse hervorragten. Der Mann starrte ins Leere.
»Mutter, Vater, Herr Hauptkommissar Ehrlinspiel von der Kripo«, sagte Hermann Sommer. »Herr Kommissar«, wandte er sich an Ehrlinspiel, »das sind meine Eltern, Frieda und Joseph Sommer, und meine Frau.«
Die beiden Älteren blieben unbeweglich sitzen. Hermann Sommers Vater wirkte mit seinen zu langen, schneeweißen Haaren, dem knolligen Gesicht und den blutunterlaufenen Augen krank und viel älter als seine sechzig Jahre. Seine Ohrläppchen waren riesig, und es wuchsen ganze Hecken von Haaren darauf.
Die junge Frau erhob sich. »Renate Sommer«, reichte sie Ehrlinspiel die Hand. »Ich bin die Schwägerin von der To… ich meine von Elisabeth. Möchten Sie vielleicht einen Kaffee? Oder Tee?«
»Danke nein, sehr freundlich.« Ehrlinspiel knöpfte seinen Mantel auf und staunte über das Blitzen und Blinken der Küche. Alles war penibel aufgeräumt. Nirgends ein gebrauchtes Geschirrstück, ein Krümel oder eine aufgeschlagene Zeitschrift. Die Menschen wirkten wie die Staffage eines Ausstellungsraums.
Renate Sommer füllte Wasser in eine Glaskanne. »Ich mache uns trotzdem Kaffee. Wir haben alle die ganze Nacht wach gelegen. Wer kann schon schlafen, wenn jemand aus der Familie ermordet worden ist.«
»Lass doch, wenn keiner will«, sagte Frieda Sommer und wandte sich dann mit verkniffenem Mund an Ehrlinspiel. Eine Perlenkette fiel über ihre flache Brust: »Sie haben doch schon mit meinem Sohn
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