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Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Schweig still, mein Kind / Kriminalroman

Titel: Schweig still, mein Kind / Kriminalroman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Busch
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gleich ist. Strukturiert. Die Verkäuferin versucht nicht, ihn zum Sprechen zu bringen. Er mag sie. Sie ist still. Sie redet nicht pausenlos wie die Mutter. Er soll nicht!
    Soll nicht!
Mutters Erklärungen platzen wie Knallerbsen vor seinen Füßen. Er ist ein Sollnicht. Mutters Sollnicht. Er hasst ihre Wörter, findet sie überflüssig. Sie sind tiefblau und hart wie Osmium. Und auch so giftig. Sie riechen nach Rettich. Er weiß, dass das Metall mit der Ordnungszahl 76 seinen Namen vom Rettichgeruch hat. Griechisch
osme
. Bruno weiß viel. Die Mutter weiß nichts. Sie kommandiert. Verbessert. Nörgelt. Sie versteht nicht, dass er ein »Soll« ist.
Bruno soll.
Das begreift er. Das passt in seinen Kopf.
    Er sieht, wie sich ihr Gesicht verändert, wenn er ein Sollnicht ist. Alles zeigt nach unten. Mund, Wangen, Kinn. Wie ein Erdloch reißen ihre Lippen auf. Gehen zu. Auf. Zu. Er starrt sie an. Tentakel kommen heraus, scharfkantig, metallisch, greifen ihn, bohren ihre Spitzen in sein Fleisch. Manchmal zeigt alles nach oben, dann ist er kein Sollnicht, und die Tentakel sind weich und klebrig, mit einer Drüse an der Spitze, als wollten sie ein Insekt anlocken.
Drosera.
    Er sieht den Unterschied in ihrer Mimik. Sieht Freude. Wut. Emotionen. Richtig deuten kann er sie nicht. Aber er kann Bilder speichern. Das ist ganz leicht. Bloß weiß er nicht, was er damit anfangen soll. Sein Bilderspeicher ist riesig. Zu jedem Wort und zu jedem Menschen hat er ein Bild gespeichert. Eine Blume oder ein Gewächs. Oder eine Formel. Die Welt besteht aus Pflanzen und abstrakten Strukturen, aus chemischen Elementen. Das ist seine Sprache. Sie hilft ihm, Gefühle anderer zu deuten.
    Wenn der Bruder Hermann seine Kinder lobt und er aus der Ecke beobachtet, wie sie miteinander toben, stellt er sich vor, neben einer Sonnenblume zu stehen. Die ist groß, schaut in den Himmel und riecht nach süßem Honig. Hermann ist auch eine Sonnenblume. Wenn Bertha das Bild von Egon ansieht und sagt, sie ist traurig, denkt er an eine Kornblume, eine Centaurea cyanus. Die leuchtet immer und ist ganz zärtlich.
    Bruno kann das auch mit Formeln machen. Ist jemand aufgeregt, setzt er sich in Gedanken in ein Koffein-Molekül. Das hat vier verschiedene Elemente, acht Kohlenstoffe, zehn Wasserstoffe, zwei Sauerstoffe und vier Stickstoffe. Die sind schwarz und silbern und blau und grün, und in ihrer Struktur gibt es zwei Ringe, einen mit fünf Ecken und einen mit sechs. Die anderen brauen braune Brühe mit Koffein und werden unruhig davon. Bruno mag keinen Kaffee. Er trinkt aus dem Bach.
    Wenn er zornig ist, kriecht er in ein Kohlenstoff-Atom. Das hat eine besondere Elektronenkonfiguration, eine halb gefüllte L-Schale. Deswegen kann es viele komplexe Moleküle bilden. Es ist die Grundlage des irdischen Lebens. Es ist dunkel und böse.
    Gestern ist der Vater beim Paradies gewesen. Die Krummholz-Kiefer. Sie ist gedrungen und empfindlich gegen Immissionen. Aber sie hält saure Böden aus. Dann kam die Drosera. Sie hat Metalltentakel geschleudert. Aber Bruno hat sich versteckt. Er ist klug! Er lässt sich nicht von Botenstoffen locken.
    Bruno-Teufel!
    Ein neues Bild stiehlt sich vor seine Augen.
Ihr
Bild. Bruno-Teufel! So nennt
sie
ihn. Nur sie. Sein Märzenbecher. Sein Sommertürchen, das leuchtet und nach Sonne duftet. Leucójum vérnum. Sie hat immer gewusst, welche Kräfte sich hinter seiner Stirn verbergen. Er mag sie. Er hat sie sogar schon gespürt. Sie ist weich und schmeckt nach Traubenzucker. Beta-D-Glucopyranose.
    Beim Gedanken an die ringförmigen Moleküle reißt er die Arme hoch, hüpft, fühlt sich leicht und elastisch wie eine Tulpenzwiebel. Wenn er lange genug hüpft, wird er durch die Scheibe des Glasdachs fliegen. Das weiß er aus seinen Träumen. Bei jedem Sprung kommt er ein bisschen höher. Höher, noch höher. Bis das Paradies birst und seinen Kopf in eine Billion Stücke zerschneidet.
    Scherben! Er hält erschrocken inne und wimmert, presst die Hände gegen seinen Kopf. Scherben außen, Scherben innen. Überall Scherben.
Nein, nein.
Er krümmt sich zusammen. Hört ein Klirren. Sieht um sich. Nimmt die Hände vom Kopf.
    Der Auftrag!
Er muss ihn ausführen. Gehorchen.
Bruno soll!
Aber wie? Er sitzt reglos auf dem Plattenweg.
    Niemand hilft ihm. Er ist allein. Die Menschen sind komisch. Ganz komisch. Er lacht auf. Wiegt sich vor und zurück. Schneller. Immer schneller, bis er umfällt. Aufsteht. Die Unruhe ihn hinaustreibt um die Häuser des

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