Schweig still, mein Kind / Kriminalroman
klingelte sein Handy.
»Ehrlinspiel?« Er hielt sich das zweite Ohr zu, um den Kneipenlärm auszusperren. Kommentarlos lauschte er.
»Und warum erfahre ich das erst jetzt?«, fragte er dann verärgert und registrierte, wie Hanna scheinbar desinteressiert die Zigarette zwischen Daumen und Zeigefinger drehte. Ihre Fingernägel waren heute in einem hellen Rosaton lackiert.
»Okay. Danke.« Er legte auf. »Ich muss los.«
»Ist er aufgetaucht?«
Wortlos stand er auf und nahm seinen Mantel.
»Sie lassen eine Dame sitzen? In einem Gruselloch voller Geister und Dämonen?«, sagte sie mit gespielter Entrüstung.
»Falls Sie Hilfe brauchen, schicken Sie mir ein Rauchzeichen, Mylady«, erwiderte Ehrlinspiel und verbeugte sich leicht.
Nun würde wohl doch noch Zeit bleiben, sich die Raubkatze etwas genauer anzugucken.
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15
E r steht am Bach. Die Rinde der Moorbirke hat sich verändert, direkt über dem Wurzelansatz mit der ovalen Verwachsung stört ein dunkler Fleck das reine Weiß. Fest schlägt er gegen den Stamm. Stößt einen kurzen Schrei aus.
Das Bild in seinem Kopf zerbirst. Er spürt, wie seine Stücke fallen. Ihre Ränder sind scharf.
Die anderen Birken sind in Ordnung. Auch die Moosbeerbüsche und das rote Sumpfblutauge. Vaccinium macrocarpon und Potentilla palustris. Aber das feuchte Gras, das zum Ufer hin abfällt, ist zerdrückt. Er bückt sich, kämmt es mit den Fingern nach oben. Erst die Halme in der Mitte. Dann die nächsten.
Und die nächsten.
Und nächsten.
Aus dunkler Erde wird sein Leben genährt.
Er beginnt zu summen, wedelt mit den Händen im Takt. Hält inne. Schnuppert. Die Luft riecht nach Eisen. Ferrum. Sie ist glatt. Und kalt. Das sieht er an der rötlichen Haut auf seinen nackten Armen. Er hebt den Kopf, saugt die Luft in seine Lungen. Bald schneit es. Leise. Still.
Er nimmt denselben Weg zurück wie immer. Der Pfad führt durch dichten Wald, am Weiher vorbei, auf freie Felder, immer am Bach entlang. Bald kommt er am Wildapfel vorbei. Malus sylvestris. Dann nach rechts schwenken. Querfeldein traben bis zum Weg hinter dem Hof. Dahin, wo Gift und Stacheln wohnen und wo sich oft klebriger Schleim ausbreitet. Wo das Paradies liegt.
Er lacht.
Bruno-Teufel.
Er ist anders. Alle sagen das. Er widerspricht nicht. Er muss gehorchen.
Die Splitter des Bildes rammen sich von innen gegen seinen Schädel. Mit der Faust schlägt er hart gegen seine Stirn. Er muss Ordnung schaffen. Und Platz. Mehr Platz.
Fast ist er am Hof angekommen. Er hat so viel zu überdenken. Die neue Weisung. Wie soll er sie dieses Mal erfüllen? Bruchstücke. Er kann sie nicht zusammensetzen.
Das Paradies. Er schließt die Glastür auf. Jemand hat es entweiht. Ist darin gewesen.
Wegnehmer!
Er hat es nicht begreifen können.
Schnipp, schnapp.
Gestohlen. Da war sie gekommen. Diese Wut. Der Jähzorn. Das passiert oft. Er kann nichts dagegen tun. Gestern Nacht ist das Paradies erneut entweiht worden. Er hat den Mann gesehen, aber der hat nichts weggenommen.
Er kniet sich neben das neue Beet, fühlt mit der Hand den Nässegrad des Bodens.
Ein Pflänzelein, mein Kindchen fein, das setzen wir im Garten ein.
Kein frisches Wasser nötig. Er steht auf. Wenn er an Wasser denkt, sieht er die Hände der Mutter, wie sie in einen Eimer tauchen, wie ihre Haut sich in Falten legt, wenn sie den Lappen auswringt. Wie sie schrubbt. Er riecht ihre modrige Ausdünstung, und er hört ihre Wörter, die scharf wie Schilfblätter durch die Luft schneiden. Sie summt nicht mehr den Reim für ihn. Die Schilfblätter sagen, Bruno ist erwachsen.
Kaskaden von stinkendem Putzwasser. Das Peitschen der Schritte auf dem Küchenboden. Der Riese im Paradies. In seinem Gehirn wirbelt so viel herum. Er fragt sich, wie die anderen das aushalten. Wie so viel in ihre Köpfe passt. Sie quasseln und schreien sich an, und jetzt reden sie dauernd von Angst und von Liss und verdächtigen sich gegenseitig, und er weiß nicht, wegen was. Er weiß auch nicht, was Angst sein soll. Die Mutter hat es ihm einmal erklärt: Er soll nicht alleine in den Wald gehen. Er soll nicht mit Fremden gehen. Er soll nicht ohne dicke Kleidung hinausgehen im Winter. Er soll nicht mit dem dreckigen Mofa in die Stadt fahren. Dabei geht er so gern in den
Akademischen Blätterwald
. Die Buchhandlung ist klein, und er weiß genau, in welchen Regalen die Bücher mit den wunderbaren Formeln stehen. Er muss nicht suchen und keine fremden Wege auf dem Teppichboden gehen. Er mag es, wenn alles
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