Schweig wenn du sprichst
besser, wenn ich jetzt bei ihr sein könnte.«
»Ich bin mir sicher, dass Sie rechtzeitig zurück sein werden«, sagte die Krankenschwester.
»Guten Morgen«, fügte sie noch hinzu.
Victor machte die Lampe neben seinem Bett an, schaute sich verwirrt im Zimmer um und sah sein offenes Notizbuch neben sich auf dem Bett liegen. Er hielt es nah vor die Augen und bemerkte, dass der letzte Satz nicht vollendet war: Wo war Vater nach meiner … »Geburt«, ergänzte er laut. Er sprang aus dem Bett, raffte alles zusammen und nahm seinen leeren Koffer vom Sofa. In zehn Minuten war er fertig. Alles gepackt. Waschen und rasieren würde er sich später. Er knipste das Licht aus und nahm den Aufzug zur Rezeption des Hotels.
»Auschecken, bitte.«
»Zimmernummer?«
»431«, sagte Victor.
»Sie verlassen uns früher als erwartet?«
»Das können Sie laut sagen«, antwortete Victor. Er war völlig abwesend.
»War alles zu Ihrer Zufriedenheit?«, fragte der Empfangschef.
»Oh, äh … Denken Sie sich nichts dabei, ich werde Vater!«
»Dann gratuliere ich im Voraus. Visa?«
»Visa!«
Eine Stunde später stand Victor am Schalter der Fluggesellschaft und bekam sein Ticket für den ersten Flug des Tages nach Wien.
»Guten Flug.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
Victor nahm sein Handgepäck, checkte ein, ging durch die Kontrolle und trank einen Kaffee.
Als Victor gemeinsam mit Lilly, die damals im siebten Monat schwanger war, an einem Freitagnachmittag die Einladung annahm, den Kreißsaal des Allgemeinen Krankenhauses zu besichtigen, begrüßte Professor Doktor Doktor Retzinger sie mit den Worten: »Bonjour et au revoir.« Das sollte nicht seine einzige Vergewaltigung der Sprache Molières bleiben. Sofort tischte er den beiden mit großer Geste eine dramatische Geschichte über eine Patientin auf, die ihn angefleht hatte, ihr Kind nur ja nicht am 20. April auf die Welt zu holen. Offenbar ging er davon aus, dass Hitlers Geburtsdatum einem Belgier ebenso unzumutbar erscheinen musste wie einem Österreicher.
Unmittelbar vor der Geburt ihrer Tochter vergriff sich der Professor-Doppeldoktor erneut an dem, was offenbar alle Wiener für die Sprache der Belgier hielten: »Ceci n’est pas si beaucoup le perte de sang«, rief er nach der letzten Wehe aus und nickte verschwörerisch in Victors Richtung, als ob das erklärte, warum Lilly für wenige Augenblicke das Bewusstsein verloren hatte. Diese Geburt dauerte schon viel zu lange. Aber endlich holte der Professor den sterilen Saugnapf aus der Schublade und half der zukünftigen Mutter bei der letzten Anstrengung, zu der sie noch fähig war. Dreizehn Stunden Wehen, sechs davon hatte Victor miterlebt, dann endlich eine Epiduralanästhesie, gefolgt von starkem Blutverlust, das hätte jede Frau umgehauen. Doch Sauerstoff, ein wenig Bettruhe und liebevolles Massieren ihrer Handflächen brachten Lilly schnell wieder zu Bewusstsein, und sie konnte das Wunder betrachten, das inzwischen Wirklichkeit geworden war. Victor sah seine Tochter auf Lillys verblüffend flachem Bauch liegen, ganz verschrumpelt und blau, während der Professor einen halben Meter weiter unten konzentriert damit beschäftigt war, für fünfzehnhundert Euro den vaginalen Geburtsschaden zu minimieren. Das Pflegepersonal, das nach einem kurzen, unmissverständlichen Befehl des Professors hektisch zusammengerufen wurde, bestand aus einem Kinderarzt, zwei Schwestern, einer Hebamme und einer nicht näher einzuordnenden Frau mit Damenbart. Victors Tochter, Moira, war vierundfünfzig Zentimeter lang. Man teilte ihm sofort mit, dass sie damit statistisch gesehen rund acht Prozent vom Durchschnitt abwich und dass sie unglaublich große Füße hätte. Ihr Gewicht betrug drei Kilo und achthundertfünfzig Gramm, was laut Auskunft des Pflegepersonals zu ihrer Größe passte. Anschließend bedankte der Professor sich noch bei Victor für dessen Beistand und die moralische Unterstützung während der Geburt. Er habe sehr zu schätzen gewusst, dass der Vater nicht in Panik geraten sei. Nicht einmal, als ihm klar wurde, dass Moiras Herz einen Augenblick zu lang aussetzte, bevor sie aus dem erschöpften Mutterleib in die Republik Österreich gesaugt wurde. Und so wurde der Flame Victor Vater einer Wiener Tochter, geboren von einer nun vor Glück strahlenden Wiener Mutter, und er genoss jede einzelne Sekunde.
»Verdammt!«, sagte Victor. »Ich muss meiner Mutter sagen, dass meine Pläne sich geändert haben und ich heute Abend
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