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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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wichtig finde. Kannst du das nicht verstehen?«
    »Nein, aber ich glaube nicht, dass das etwas ändert. Denk daran, dass es dir heute, deinem Vater sei Dank, gut geht und du glücklich bist.«
    »Vielleicht komme ich noch vorbei, bevor ich zurückfliege.«
    »Ich vergebe dir nie, wenn du das nicht tust!«
    »Wird es nicht langsam Zeit, dass du anfängst zu vergeben? Und zu reden?«
    »Vielleicht. Bis später dann?«
    Victor warf sein Telefon aufs Bett, trank ein Glas Wasser und starrte hinaus. »Verdammt! Fünfundachtzig, und sie ärgert mich immer noch!« Er hatte Hunger. Er rief den Zimmerservice an und bestellte etwas zu essen. Er antwortete lauter als er wollte auf den Hinweis, dass Bestellungen aufs Zimmer einen Aufschlag kosten. »Alles im Leben kostet einen Aufschlag! Nichts ist jemals inbegriffen!« Er legte den Hörer heftig auf. Er wünschte, dass die Dinge einfacher wären, entspannter, nicht so kompliziert. Er atmete tief ein und ließ zu, dass Ruhe seinen Zorn verdrängte.
    Er ging in die Stadt. Er schlenderte über die holprigen Straßen, die er so gut kannte, und suchte nach Läden, in denen er früher eingekauft hatte. Viele Geschäfte gab es nicht mehr. Die internationalen Ladenketten hatten gierig ihre Zähne in die endlose Reihe typischer kleiner Unternehmen geschlagen, die so lange das Straßenbild bestimmt hatten. Er hätte genauso gut in der Mariahilfer Straße in Wien herumlaufen können: Alles war Einheitsbrei geworden. Er ließ sich mit dem Strom shoppender Jugendlicher und schlendernder Touristen treiben, mit den gehetzten Geschäftsleuten, die auf dem Weg vom Büro nach Hause waren. Er sah Freundinnen, die, oft mit denselben Kleidern und Accessoires ausstaffiert, Arm in Arm die neuen Auslagen entlangbummelten. Jungs in weiten Hüfthosen, die auf Roller-Blades zwischen den Straßenbahngleisen beschleunigten und so die Aufmerksamkeit der Schulmädchen auf sich zu lenken versuchten. Er sah Väter mit Kindern an der Hand oder auf den Schultern, von wo aus sie über die Menschenmenge hinweg die Fußgängerzone im Blick hatten. Väter mit Kinderwagen, Väter mit dem Arm auf den Schultern der Söhne, lachend, redend. Wo waren die Mütter? Er wusste, dass sie da waren, aber er sah sie nicht. Er war mit seinem Vater nie auf dieser Straße gewesen, auf keiner einzigen Straße, soweit er sich erinnern konnte. Er war nie zusammen mit seinem Vater Bücher oder Platten oder Klamotten einkaufen gewesen. Er war mit Albert nie in ein Geschäft gegangen, um ein Hemd oder T-Shirt zu kaufen, das er gern haben wollte. Victor erinnerte sich an seinen Vater nur zu Hause am Tisch sitzend, und selbst da war er kurz angebunden und in Eile gewesen. Er hörte ihn sagen, dass er mit seinem Fahrrad aus der Fabrik wegbleiben solle, weil er sonst die Arbeiter störe. Victor sah sich wieder im Auto sitzen, auf dem Weg zur Familie, wo der Besuch meist auf Gespräche unter Erwachsenen hinauslief, an denen er nie teilgenommen hatte. Albert hatte, so sehr Victor auch in seiner Erinnerung kramte, nie mit ihm gespielt. Kein Kicken auf dem großen Rasen hinter dem Haus, keine neue Konstruktion mit Meccano oder Lego.
    Victor spazierte an dem Kolleg vorbei, wo er nach seinem dreizehnten Geburtstag ins Internat gegangen war. Sein Vater hatte zwar mitbekommen, dass Victors Schulergebnisse sich auf dem Kolleg verschlechterten, aber weiter nichts dazu gesagt. Und Victor wusste, dass Albert ebenso wenig gesagt hatte, als seine Mutter entschied, ihn gegen seinen Willen auf ein anderes Kolleg zu schicken. Albert hatte nichts gesagt, er hatte nichts gefragt, er hatte nicht geholfen, als Victor ihn ohnmächtig, voller Hoffnung angesehen hatte. Er ging, ohne sich noch weiter umzusehen, zum Hotel zurück.

30
    »Und?«
    Er hatte die grau gefliesten Stufen erklommen, die von der schweren, hölzernen Eingangstür des Universitätsgebäudes zu dem Zimmer in der vierten Etage führten. Jemand hatte ihn begleitet. Ein Mann in grüngrauer Uniform, mit goldenen, altmodischen Schlüsseln auf dem Revers. Er wollte sichergehen, dass Victor sich in diesem Labyrinth nicht verirrte. Victor dankte dem Portier und sagte, dass er den Ausgang wohl wieder finden werde. »Irgendwann findet jeder den Ausgang«, dachte er bei sich.
    »Kommst du rein oder bleibst du draußen stehen?« Victor sah in ein altes, ziemlich fahles Gesicht, umrahmt von einer ausladenden Menge grauer Haare, die wild in alle Richtungen standen. Er war überrascht und betrachtete den Mann

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