Schweig wenn du sprichst
sein.
Es fällt mir so schwer, dir das alles zu erzählen, ohne dich in meine Arme schließen zu können und dein Gesicht, deine Reaktion zu sehen. Ich hoffe aus dem tiefsten Inneren meines Herzens, dass es die richtige Entscheidung war, dir das alles zu erzählen. Doch ich bin davon überzeugt, dass du diese Neuigkeit erfahren möchtest.
Lieber Albert, meine Sehnsucht nach dir ist stärker als alles, was ich in meinem Leben gefühlt habe, und es zerreißt mir das Herz. Aber ich muss jetzt an unser Kind denken und unsere Zukunft planen. Ich liebe dich und ich weiß, dass wir uns irgendwo, irgendwann wiedersehen werden. Ich weiß nicht, was mich zu Hause erwartet, und ich kann nur hoffen. Ich schreibe die Adresse auf die Rückseite dieses Briefes, der dich, so hoffe ich von ganzem Herzen, bei guter Gesundheit erreicht.
Ich schicke dir ein Foto von mir, in innigster Liebe und Verbundenheit,
Deine Lucy
28
»Victor, du bist spät dran.«
»Gib mir noch fünf Minuten und einen Kaffee, dann bin ich weg.«
»Moira wartet schon im Kinderwagen. Schau.«
Victor kam aus dem Badezimmer und trocknete sich das Gesicht ab, während er Moira ansah.
»Papa schoren.« Moira zeigte mit dem Finger auf Victor.
»Schau Mama, Papa schoren.«
»Ich weiß nicht, wohin sich das mit unseren beiden Sprachen entwickelt«, sagte Lilly, »aber es klingt schon hübsch.«
»Danke für den Kaffee, Liebes.« Victor trank seinen Espresso in einem Zug aus, zog sich Schuhe und Jacke an und küsste Lilly. »Bis nachher.«
»Bis nachher. Vergiss nicht der Kindergärtnerin zu sagen, dass sie nächste Woche Montag nicht kommt.«
»Ah, ja, richtig. Mache ich.« Victor öffnete den Aufzug, fuhr den Kinderwagen hinein und wollte auf den Knopf zum Erdgeschoss drücken.
»Nein, Moira machen, Moira machen!«
Er holte Moira aus dem Kinderwagen und hob sie hoch. Sie drückte auf den richtigen Knopf.
Er versuchte es jeden Morgen wieder. Obwohl Victor zum x-ten Mal an seiner Bude vorbeiging, ohne ihn auch nur anzusehen. Victor sah, wie der Mann ihm eine auf eine Plastikgabel aufgespießte mit Käse gefüllte Olive anbot.
»Gratis Kostprobe, mein Herr. Oliven mit Schafskäse, gratis kosten?«
Victor mochte morgens um Viertel nach acht keine Oliven. Zwanzig Meter weiter stand Hari, der Nepalese. Der wusste, dass Victor schon einmal Handschuhe bei ihm gekauft hatte, trotzdem zeigte er ihm jedes Mal die nach außen gezogene Innenseite, um zu beweisen, dass sie warm und qualitativ gut waren. Obwohl Victor schon lange wusste, dass sie es in Wahrheit nicht waren. Die elf ungarischen Touristen, die in einem Kreis um eine kleine tanzende Kuh an der Bude des Inders standen und gafften, behinderten Moiras Sicht. Deshalb quengelte sie so lange, bis sie endlich eine Lücke bildeten.
Der Gemüsemann sagte jeden Tag, wie lange es her sei, dass er Victor gesehen habe, aber er wusste, dass seine Ware für die Jahreszeit zu teuer war.
Victor kaufte Milch und frische Brötchen für später, wenn er wieder zu Hause war. Heute nahm er eine Sonnenblume aus dem Trichter bei Frau Udicheck, weil er Moiras Kindergärtnerin für das Laternenfest danken wollte, das sie gestern Abend organisiert hatte. Und am Ende des Marktes stand Mai Li. Sie wusste, dass er bis Samstagabend, fünf Minuten bevor sie den Stand abbaute, warten würde, um den Schal zu kaufen, für den er nur zehn statt zweiundzwanzig Euro bezahlen wollte.
»Was ist das?«, fragte Victor.
»Peer«, sagte Moira.
»Und das?«
»Trauben.«
»Und das?«
»Appelsien.«
»Deine Mutter hat recht. Du benutzt immer die einfachsten Wörter aus jeder Sprache, du kleiner Schlaumeier! Und kaum einmal zwei!« Er kniff in Moiras Wangen und sie gurrte vor Vergnügen.
Er ging die schräge Fläche zum Kindergarten hinauf und brachte Moira in ihre Gruppe. Die Schmetterlingsgruppe. »Schmetterling«, sagte Moira.
Er küsste sie zum Abschied und sagte: »Papa kommt dich nachher abholen.«
»Nein, Mama.«
»Nein, Papa.«
»Nein …«
»Schon gut. Du wirst schon sehen, wer kommt. Aber Mama muss arbeiten.«
»Mama arbeiten«, sagte Moira und gab ihm einen Kuss. Sie rannte zu ihrer Gruppe und winkte mit ihrem Arm über dem Kopf, ohne ihn dabei anzusehen.
Victor hatte einen freien Morgen. Er musste Moira erst um zwei Uhr wieder abholen, und mit dem letzten Auftrag für Jef war er fertig. Also ging er zum Frühstücken in sein Lieblingsrestaurant zurück zum Naschmarkt. Er rechnete nach, dass er jeden Tag viermal
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