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Schweig wenn du sprichst

Schweig wenn du sprichst

Titel: Schweig wenn du sprichst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roel Verschueren
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von Kopf bis Fuß, denn er sah anders aus als heute Morgen in der Aula. Der Mann vor ihm schien viel älter, ausgelaugt, und ihm fehlten die Dynamik und das Feuer, das er erwartet hatte.
    Jozef war ein beachtlich ungepflegter Professor. Mit Flecken auf der Hose, ausgefransten Hemdsärmeln, Löchern in seinem ausgeleierten grauen Pullover und ungeputzten Schuhen, die schief abgelaufen waren. Er war spindeldürr, vor allem die hervorstehenden Wangenknochen ließen sein Gesicht spitz wirken, und seinem Blick konnte man nicht ausweichen. So sehr Victor es auch versuchte, er konnte sich ihm nicht entziehen. Der Blick dieser graublauen, tief liegenden Augen durchbohrten ihn. Jozef wich, mit der Tür in der Hand, einen Schritt zurück und ließ ihn hinein. Victor streckte seine Hand aus. Jozef schüttelte sie fest. »Setz dich«, sagte er.
    Victor nahm auf einem alten, niedrigen Sofa Platz, auf dem deutlich Katzenhaare zu sehen waren, aber er konnte das Tier nirgendwo entdecken. Jozef ließ sich müde auf den Sitz gegenüber sinken, und Victor beobachtete möglichst diskret, wie der Professor nervös von einer Pobacke auf die andere rutschte.
    Hämorriden, dachte Victor.
    »So begegnen wir uns schließlich doch. Danke, dass du dir Zeit für mich nimmst.«
    »Nichts zu danken«, sagte Jozef, »ich weiß aus Erfahrung, wie wichtig diese Dinge sind. Entschuldige, dass ich dich erst so spät am Tag empfangen kann. Ich habe den ganzen Morgen Vorlesungen gehalten, und heute Mittag hatte ich Sitzungen. Möchtest du etwas trinken? Scotch?«
    »Da bin ich dabei«, sagte Victor. Er schaute sich im Zimmer um, während Jozef zu einem kleinen Getränkeschrank ging. Der Raum war hell, voller Sonnenlicht, das reichlich durch zwei große, hohe Fenster mit Aussicht auf einen grünen Garten im Hof strömte.
    In der Ecke stand ein Schreibtisch, an einem der Fenster, auf ihm ein alter Computer, Papierstapel und leere Tassen mit braunen Kaffeerändern. Eine Packung Gauloises ohne Filter lag neben einem vollen Aschenbecher. »Wenn du möchtest, kannst du rauchen«, sagte Jozef, der sah, dass Victor die Zigaretten anschaute.
    »Danke.« Victor zündete sich eine Zigarette an.
    Die Wände links und rechts waren ein einziger Bibliotheksschrank, symmetrisch bis zur Decke hochgezogen, proppenvoll mit Büchern und alten, aufgerollten Landkarten. Der alte Parkettboden war ausgetreten. Vielleicht waren die Inhaber hier jahrelang auf- und abgegangen und hatten verzweifelt nach Antworten auf ihre Fragen gesucht und nach den Gründen, mit denen sie ihre Thesen beweisen konnten. Gehen half dabei, das wusste er. Gehen half wirklich. Er bemerkte die Stille um sich herum.
    »Wir haben also einen gemeinsamen Freund«, sagte Jozef.
    »Eigentlich unglaublich, wie wir miteinander in Kontakt gekommen sind«, antwortete Victor.
    »Und wie geht es Markus?«
    »Markus ist Markus. Es geht ihm sehr gut, glaube ich. Ich habe ihn schon länger nicht mehr gesehen, aber Lilly ruft ihn regelmäßig an und er beklagt sich nicht. Ich habe ein Foto mitgebracht. Das wurde bei seiner goldenen Hochzeit aufgenommen. Die ganze Familie ist drauf.« Victor holte das Foto aus seinem kleinen Rucksack und gab es Jozef.
    »Zum Wohl«, sagte Jozef und leerte sein Glas in einem Zug, mit dem Foto in seiner Hand. »Kinderreiche Familie.«
    »Sehr kinderreich«, lachte Victor. »Wo wir von Familiengröße sprechen: Die Zahl Acht kreuzt immer wieder meinen Lebensweg.«
    »Ich fürchte, ich kann dir nicht folgen.«
    »Lange Geschichte. Aber heute unwichtig.«
    »Bist du verheiratet?«
    »Lilly und ich leben zusammen und haben eine Tochter.«
    »Aua! Das muss ein Stachel sein für Markus«, sagte Jozef.
    »War es. Aber auch das haben wir überlebt.«
    »Gut«, sagte Jozef. »Wir sind also hier, um die Akte deines Vaters anzuschauen. Ich habe sie kopieren lassen. Das ist praktischer.«
    Jozef gab Victor eine Kopie, ging zum Schrank neben der Eingangstür, füllte sein Glas und zeigte mit der Flasche in Victors Richtung.
    »Ich setze eine Runde aus«, sagte Victor.
    »Eigentlich stimmt alles ungefähr mit dem überein, was ich in meiner E-Mail geschrieben habe.« Jozef ließ sich wieder in seinen Sitz sinken.
    »Normaler Verlauf. Aufgebrochen von Antwerpen, Flämische Legion, Ersatzbataillon in Graz, zur Offiziersausbildung nach Deutschland, als Waffen- SS für die Offensive gegen die Russen nach Breslau verlegt, Krankheit und Lazarett in Breslau, eine Operation, wieder an die Front, krank und

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