Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
Anja blieb stehen und schaute ihm ratlos nach.
»Jesus Maria«, fluchte Obermüller in ihrem Rücken.
3
S ie genoss den scharfen Geschmack von Zahnpasta in ihrem Mund und bürstete so lange, bis ihr Zahnfleisch zu bluten begann. Vor dem Duschen hatte sie ihren Körper mit Hilfe eines Handspiegels nach Zecken abgesucht und sich dann ausgiebig die Haare gewaschen, um den fettig-rauchigen Gestank des Restaurants, wo sie zu Abend gegessen hatte, loszuwerden. Aber das reichte nicht. Der Geruch war überall. Sie zog ihren Schlafanzug wieder aus und cremte sich von oben bis unten ein. Erst dann bemerkte sie, dass es ihre Kleider waren, die ihr kleines Zimmer mit diesem ranzigen Gaststättengeruch verpesteten. Sie schaute missmutig um sich. Es war schon nach zweiundzwanzig Uhr. Die knarrende Stiege hinunterzusteigen war ausgeschlossen. Frau Anhuber hatte sie mit ihren engstehenden Schweinsäuglein schon missbilligend genug angeschaut, als sie erst um halb neun nach Hause gekommen war und nicht wie gewohnt um sieben. Kurzerhand steckte sie ihre Kleider in einen Plastiksack, öffnete das Fenster und klemmte den Tragegriff beim Schließen unter der Zarge ein. Sie durfte nur morgen früh nicht vergessen, dass der Sack dort hing.
Die Begegnung mit Xaver hatte sie stärker mitgenommen, als sie erwartet hatte. Obermüller hatte sie natürlich gefragt, woher um alles in der Welt sie den Namen dieses verrückten Kauzes gekannt hatte. Aber nachdem sie nur vage geantwortet hatte, war er glücklicherweise nicht weiter in sie gedrungen. Ausgerechnet Xaver. Und dann so. Sie war darauf in keiner Weise vorbereitet gewesen. Sollte sie gleich Herrn Venner-Brock anrufen und ihn fragen, ob das vielleicht etwas zu bedeuten hatte und ob es seiner Theorie nach ihrem Zustand förderlich sei, dass sie Xaver Leybach begegnet war?
Ihr Handy zeigte endlich wieder ein Netz an. Aber sie wählte nicht die Nummer des Therapeuten, sondern klickte die Namen durch, bis »Sonja« erschien, und drückte dann auf die Ruftaste.
»Ja bitte«, erklang ihre helle Stimme nach dem zweiten Klingeln.
»Wie war es heute?«, fragte Anja ohne Umschweife.
»Unverändert. Mittags hat sie ein wenig gegessen. Abends war sie leider nicht dazu zu bewegen, aber sie hat Tee getrunken. Ich glaube, sie schläft schon. Willst du mit ihr sprechen? Soll ich nachsehen?«
»Nein. Nicht nötig. Von hier gibt es nichts zu erzählen. Hat sie nach mir gefragt?«
»Ehrlich gesagt …«
»Du sollst immer ehrlich zu mir sein, Sonja.«
»Also nein. Sie hat den ganzen Tag kaum gesprochen. Die Medikamente sind ziemlich stark.«
»Ich hoffe nicht zu stark.«
»Ich weiß es nicht. Aber ich denke, man darf bei ihr kein Risiko eingehen.«
»Danke für alles. Ich melde mich morgen. Kommst du gut voran?«
»O ja. Ich lebe ja hier wie in einer Mönchszelle. Herrlich.« Sonjas Stimme tat ihr wohl. Was für ein Glücksfall, sie gefunden zu haben! Zwei Monate würde sie noch bleiben, auf ihre Mutter aufpassen und in den vielen Stunden, wo glücklicherweise gar nichts zu tun war, für ihr Medizinstudium büffeln. Und dann? Wie sollte es dann weitergehen? Sollte sie ihre Mutter bis ans Ende ihrer Tage bewachen lassen, damit sie sich nicht noch einmal etwas antat? Müsste sie ab jetzt immer Medikamente nehmen?
Anja ließ den Arm sinken und sah sich niedergeschlagen in ihrem Zimmer um. Der Anblick deprimierte sie fast noch mehr als der Gedanke an ihre depressive Mutter. Wenn sie wenigstens dort sein könnte, in ihrem Haus in Planegg. Da gab es eine Bücherwand, einen Kamin, kuschelige, bequeme Sofas und Bilder an den Wänden. Diese Behausung hier war entsetzlich. Offenbar war irgendwo ein Ausverkauf von Kiefernpaneelen gewesen, als dieses Zimmer eingerichtet wurde. Eine Sauna war nichts dagegen. Sie suchte nach ihren Strümpfen, um den grünen Nadelfilz auf dem Boden nicht mit nackten Füßen betreten zu müssen, zog sie an, trat vor den Spiegel und wickelte ihre feuchten Haare aus dem Handtuch, das sie um den Kopf geschlungen hatte. Der Blick aus dem Fenster besserte ihre Stimmung nicht, denn wie sie es auch drehte und wendete: Früher oder später würde sie in genau solch einem Kaff wohnen müssen. Forstleute lebten nun einmal üblicherweise nicht in München oder Hamburg, sondern meistens in Orten wie diesem. Dabei war Waldmünchen noch relativ groß, mit fast siebentausend Einwohnern und einem eigenen Erlebnisbad. Sie war erst drei Wochen hier, und schon jetzt bedrückte sie das alles
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