Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
vor ihnen auf und schrie sie an. Was sie hier verdammt noch mal verloren hätten?
So jedenfalls übersetzte sich Anja den Sinn der Wörter, die sich in einem kaum verständlichen Dialekt über sie ergossen. Der kurz zum Sprechen sich öffnende Mund hatte eine unvollständige Vorderzahnreihe enthüllt. Die breite Stirn war gefurcht. Um die dunklen Augen herum, in denen Anja unbändigen Zorn, aber auch eine Spur von Fassungslosigkeit und völligem Unverständnis zu lesen vermeinte, war die Haut schlaff und faltenverwittert. Ein ungepflegter grauer Vollbart bedeckte sein Gesicht und hatte auch die Lippen komplett überwuchert. Nur wenn er sprach, sah man seinen Mund.
»Nehmen Sie bitte sofort die Waffe herunter!«, befahl Anja in einer Schärfe, die sie selbst überraschte. »Und ich meine SOFORT. Haben Sie mich verstanden?«
Aber der Mann reagierte nicht. Er sah sie unverwandt an, rührte sich nicht vom Fleck, schien gar nicht zu begreifen, was sie gesagt hatte, und setzte seine Schimpftirade fort. Das Gewehr baumelte an seiner Seite, aber glücklicherweise schien er sich – jedenfalls im Moment – nicht dafür zu interessieren.
Anja spürte Angstschweiß auf dem Rücken. Hilfesuchend drehte sie sich nach Obermüller um. Der hatte offenbar nur darauf gewartet, dass sie an ihn übergab, und schrie unvermittelt los.
Was auch immer er gesagt hatte – denn es war wieder im Dialekt gesprochen –, der Fremde verstummte. Aber die Situation war unverändert. Der Mann sah noch immer so aus, als könnte er jeden Moment die Beherrschung verlieren und sie einfach über den Haufen schießen.
Anja schielte zu Obermüller hin, der weitere Sätze hervorstieß, die dem Unbekannten wahrscheinlich erklärten, was sie hier taten. Die Worte selbst verstand Anja noch immer nicht, ebenso wenig wie die Schimpftirade des Mannes, die nun wieder einsetzte. Anja konnte sich nur zusammenreimen, dass sie es mit dem Waldbesitzer zu tun hatten, der weder über ihre Tätigkeit hier informiert noch damit einverstanden war.
Während die Wechselrede zwischen Obermüller und dem Fremden immer erregter wurde, wanderte Anjas ängstlicher Blick immer wieder zur rechten Hand des Mannes, die nervös zuckend den Tragriemen des Gewehres umfasst hielt. Dieser verkürzte Ringfinger! Anja fixierte das wutverzerrte Gesicht. War das er? Unschlüssig wanderte ihr Blick zwischen diesem Gesicht, das ihr vollkommen fremd war, und der verstümmelten Ringfingerkuppe dieser rechten Hand, die ihr durchaus vertraut erschien, hin und her.
Entschlossen unterbrach sie den heftigen Wortwechsel der beiden Männer mit einem plötzlich ausgestoßenen »Xaver«.
Der Fremde verstummte. Auch Obermüller hielt inne und verschränkte die Arme, vielleicht enttäuscht, in jedem Fall jedoch erstaunt darüber, dass dieses eine Wort Anjas so unglaublich viel wirkungsvoller gewesen sein sollte als seine vielen.
»Xaver?«, fragte Anja erneut, diesmal in einem ruhigeren, sanfteren Ton, denn sie musste ja nicht länger ein Wortgefecht übertönen und war sich nun auch recht sicher, dass von diesem Menschen für sie keine Gefahr ausgehen konnte.
Der Fremde fixierte sie wie eine phantastische Erscheinung. »Xaver?«, fragte sie ein drittes Mal und ging nun sogar einen Schritt auf ihn zu. »Ich bin’s doch nur. Die Grimm Anja.«
Er war es! Oder etwa nicht? Wer auch sonst? Warum hätte er auch andernfalls so plötzlich innegehalten? Dieser Mann war Xaver Leybach, Sohn von Anna und Alois Leybach, der Bruder von Traudel Gollas. Die Namen kehrten wie von selbst in ihr Gedächtnis zurück.
»Wir untersuchen hier die Böden«, fügte sie hinzu, weil Xaver Leybach noch immer nicht reagierte, sondern nur reglos stumm und finster vor sich hin starrte. »Ich komme vom Forstamt Waldmünchen«, fuhr sie ruhig fort. »Wir kartieren hier nur. Das ist alles. Schau.« Sie hielt ihm ihr Klemmbrett hin und zeigte dann auf ihren Bohrstock, den sie noch immer so fest umklammert hielt, dass ihre Finger jetzt schmerzten.
Er schnaufte. Das war alles.
Anja wollte hinzufügen, dass er doch wohl benachrichtigt worden sei wie alle Waldbesitzer im Kreis, aber Xaver Leybach schien entschieden zu haben, dass das Gespräch für ihn beendet war. Ohne ein weiteres Wort machte er kehrt und ging davon.
»Xaver … Herr Leybach«, rief Anja und eilte ihm ein paar Schritte nach. Aber der Alte machte nur eine wedelnde Handbewegung, als müsse er Fliegen verscheuchen, die ihn auf Höhe des Gesäßes verfolgten.
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