Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
der Arbeit zugeschaut hatte? Vermutlich war es ein neugieriger Einheimischer, der sich nicht dafür rechtfertigen wollte, dass er sie beobachtet hatte. Doch eine zweite innere Stimme schlug eine ganze andere Richtung ein: nämlich dass ihr eigenes Gewehr im Auto lag und dass man nie wissen konnte, wer sich ein paar hundert Meter von der tschechischen Grenze entfernt in einem einsamen Waldgebiet herumdrückte. Das hier war eine ziemlich verlassene Gegend, und die Art und Weise, wie dieser Mann plötzlich verschwunden war, nachdem sie ihn bemerkt hatte, ließ alle Warnlampen in ihr aufleuchten. Und noch bevor sie das Dickicht erreicht hatte, das sie durchqueren musste, um zu Obermüller zu gelangen, rief sie plötzlich laut und deutlich: »HOOP! HOOP! HOOP!«
Es dauerte ein paar Sekunden. Aber dann ertönte ein klares: »JOH?«
Sie kämpfte sich durch die Zweige und schaute dann sowohl erleichtert als auch überrascht zu Obermüller hin. Er stand wartend auf einer Lichtung und blickte ihr verwundert entgegen. Der Bohrstock lag vor ihm auf dem Boden, den Querstab hielt er in der Hand. Anjas Verwirrung steigerte sich noch. Wieso war hier eine Wiese?
Während sie sich beeilte, zu Obermüller aufzuschließen, sah sie sich immer wieder um, ob der Mann mit dem Fernglas irgendwo zu sehen war. Aber der Wald hatte ihn wieder verschluckt. Rasch legte sie die letzten Meter zu Obermüller zurück.
»Was ist denn?«, wollte er wissen. »Frühstückspause?«
Anja zog sich Fichtennadeln aus dem Haar und rieb sich die lehmigen Finger an ihrer dunkelgrünen Hose ab. »Da war eben ein Mann im Wald. Er ist bewaffnet. Ist der hier vorbeigekommen?«
»Nein, Frau Grimm«, erwiderte Obermüller förmlich und musterte sie. »Hier war niemand.«
Anja konsultierte ihre Karte. Hatten sie die Orientierung verloren? Oder hatte sie diese Wiese übersehen? Aber ein zweiter, prüfender Blick bestätigte ihr, dass dem nicht so war. Sie standen zweifellos auf der mit Haingries bezeichneten Parzelle, gut zweihundert Meter vom Leybachhof und etwa doppelt so weit vom Gollashof entfernt. Doch auf ihrer Karte war eindeutig Fichtenwald verzeichnet. Sie sah sich um. Unweit der Stelle, wo sie aus dem Wald herausgekommen war, stand ein Hochsitz. Die Kanzel war derart alt und vermodert, dass sie mit dem Rest des Waldes wie verwachsen schien. Sie drehte sich um und nahm den Rest der Wiese in Augenschein. Ein Stück von ihr entfernt stand etwas, das wie eine Kiste aussah. Anja ging darauf zu. Jemand hatte alte Holzlatten zu einem vielleicht vierzig Zentimeter hohen, rechteckigen Verschlag zusammengenagelt. Darin lagen, an einem Holzpflock festgebunden, die Reste eines toten Huhns. Ein Fuchsköder, dachte sie. Sie standen offenbar auf einem Luderplatz.
Sie ging zu Obermüller zurück, der noch immer den Bohrstock in der Hand hielt und sie verwundert beobachtete. Dann hörten sie Schritte. Überrascht fuhren sie beide herum. Der Mann kam am östlichen Rand der Wiese aus dem Wald und marschierte direkt auf sie zu. Mit einem leisen »Jesus Maria« wich Obermüller zurück, während Anja wie angewurzelt stehen blieb.
Der Blick des Fremden war stur auf sie gerichtet. Seine Augen verblieben während der ganzen Zeit, da er auf sie losstürmte, in der gleichen starren, wenig vertraueneinflößenden Stellung. Sein Aufzug war nicht weniger seltsam als sein bedrohliches Auftreten beunruhigend. Er trug klobige, dunkelbraune Schnürstiefel, tiefgrüne Knickerbockerhosen und einen kurzen, schwarzen Ledermantel, dessen Riemen und Schnallen geschlossen waren. Überhaupt nicht dazu passte die blaue Schirmmütze aus Stoff auf seinem Kopf, auf der weithin sichtbar das Logo einer bekannten Düngemittelfirma prangte. An einem breiten Lederriemen über seiner rechten Schulter hing ein Drilling. Die Mündung der Waffe war auf ihre Beine gerichtet, und Anja wusste sehr gut, dass es in dieser Trageposition kein Problem war, den Lauf mit einer Handbewegung anzuheben.
Anja und Obermüller standen reglos da und brachten kein Wort heraus. Anja durchfuhr der Gedanke, dass dieser Mensch sein ganzes Lebensalter auf dem Leib zu tragen schien: Schuhe und Hosen der Nachkriegszeit, eine Lederjacke, die an Staatssicherheit und DDR-Polizei erinnerte, und obenauf eine vermutlich in China genähte Düngemittel-Werbemütze. Alles zusammengenommen passte das zu dem Eindruck, dass der Mann wohl um die sechzig Jahre alt war. Jetzt hatte er sie erreicht. Er baute sich in etwa zwei Meter Entfernung
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