Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
gut wie alles über sie, und sie kannte nicht einmal seinen Familiennamen. In dieser Gegend hatte niemand Doppelnamen. Die Leute hießen Fuchs, Huber, Bauer, Riedel oder eben Obermüller wie der Mann neben ihr, der jetzt missmutig durch die Windschutzscheibe stierte. Sie hätte grundsätzlich nichts dagegen gehabt, Michel zu ihm zu sagen. Aber Michel Obermüller war Mitte vierzig und alleinstehend. Die Frage, wer mit der jungen Forststudentin im Wald das erste richtige Loch bohren würde, war, wie sie erfahren hatte, in Obermüllers Stammkneipe in Waldmünchen bereits wiederholt diskutiert worden. Die Gegend ließ wenig Spielraum für Experimente in Geschlechterfragen.
Anja brachte den VW-Bus zum Stehen und blickte einen Feldweg hinab, der sich wenige Meter vor ihnen teilte. Links von ihnen, geduckt am Waldrand, lag ein altes Gehöft mit einem hässlichen Anbau, der aussah, als habe man ihn über die vor zehn Jahren verschwundene Zonengrenze hinweg hergeschleppt. Zur Rechten führte eine sandige Piste direkt in den Wald hinein. Anja griff nach den Karten auf der Ablage.
In der Eile und durch die rasch improvisierte Neuplanung gestern hatte sie teilweise mit älterem Kartenmaterial arbeiten müssen. Nord Ost LLX 34 stand in großen Lettern am oberen Rand der alten Flurkarte. Faunried, Leybach, Haingries, Hinterweiher. Die Gemarkungen und Höfe waren zwar erfasst, aber ob das alles noch so genau stimmte, war zweifelhaft. In den letzten Jahrzehnten war gestorben und geboren, verkauft und vererbt worden. Im Vergleich zu den riesigen Zeiträumen im Boden, in denen sie gleich herumstochern würden, waren die Zeithorizonte hier oben zwar kaum der Rede wert, aber für die grobe Orientierung nun einmal unerlässlich.
Sie kuppelte wieder ein, lenkte den Wagen bis zu den ersten Bäumen, fuhr dann rechts heran und schaltete den Motor ab.
»Sind wir da?«, fragte Obermüller ungeduldig, weil Anja noch immer stumm die Karte studierte. »Was ist denn heute dran?«
»Leybach und Haingries«, antwortet sie und nestelte den Kompass aus ihrer Brusttasche. »Das sollten wir in einer Woche schaffen. Danach kommt Hinterweiher an die Reihe.«
»Und Faunried?«
»Enthält keine Waldstücke mehr. Streusiedlung ohne Streu sozusagen.« Sie deutete hinter sich auf ein hässliches Biogassilo. »Wie der Boden dort aussieht, weiß ich auch ohne Bohrstock.«
Obermüllers Blick folgte Anjas Finger auf der Karte, der jetzt auf drei schraffierte kleine Vierecke mitten im Wald zeigte. »Leybachhof«, sagte sie und schob den Finger dann an eine andere Stelle. »Gollashof.«
Sie drehte sich um und schaute zu der kleinen Häusergruppe am Dorfrand hin, die direkt an den Wald angrenzte. Sie hatten angebaut, sagte sie zu sich selbst. Aber anscheinend war ihnen das Geld ausgegangen. Nur ein Teil der Wände war verputzt. Im hinteren Teil des Anbaus waren Pressspanplatten vor die Fensteröffnungen genagelt. Am Haupthaus blätterte der Putz ab.
»Wir fangen hier an und bewegen uns dann erst einmal entlang dieser Achse bis zum Haingries. Danach schauen wir, nach welcher Seite wir auffächern. Auf geht’s.«
Anja stieg aus und machte einige Schritte in den Wald hinein, während Obermüller die Gerätschaften aus dem Wagen holte. Als er bepackt neben ihr stand, prüfte sie noch ein letztes Mal die Orientierung im Gelände an und sagte dann: »Hier.«
Obermüller plazierte die Spitze des Bohrstocks auf dem Waldboden und drückte ihn ein Stück in den Boden hinein. Als Nächstes hob er den weißen Plastikhammer. Anja sah sich irritiert um. Nein. Nicht jetzt. Ein unangenehmes, pelziges Gefühl kroch ihr über den Nacken und begann allmählich, ihre Brust zu umschließen. Sie griff in ihre Hosentasche, aber die war leer.
»Ich komme gleich wieder«, sagte sie mit gepresster Stimme zu Obermüller, der sie jedoch gar nicht beachtete, sondern Maß nahm, um den ersten Schlag richtig zu plazieren. Sie erreichte den Wagen gerade noch rechtzeitig. Das Medikament lag im Handschuhfach. Sie riss es auf, griff nach dem Zerstäuber, biss auf das Mundstück, drückte auf den Verschluss und sog das kühle, feuchte Spray tief in die Lungen ein. Der Krampf löste sich sofort. Erleichtert über die Wirkung des Medikaments, stand sie einige Sekunden da und atmete mit vollem Bewusstsein, noch immer ein wenig misstrauisch, ob der Krampf nicht doch gleich wieder einsetzen würde, dann zunehmend gelöst und dankbar, dass der Druck in ihren Lungen verschwunden
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