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Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)

Titel: Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfram Fleischhauer
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kalt und sinnlos aus der Landschaft und verdarb jeden Reiz, den sie ansonsten vielleicht haben mochte.
    Wie mochte der Anblick dieses grässlichen Steinhaufens erst auf diejenigen gewirkt haben, die vom Bahnhof über die Dorfstraße ins Lager geprügelt worden waren? Und für wie viele war dieser monströse Hügel das Letzte gewesen, was sie von der Welt sahen, bevor eine Kugel, ein Knüppel, ein Stiefel oder ein Strick sie tötete? Hatte Thomas Schlei zu ihm aufgeblickt, wenn er auf dem Appellplatz Kinder hinrichtete und sich dabei an ihre Beine hängte, weil Kinderkörper für den Strang zu leicht waren?
    Auf dem Appellplatz war ein großes, weißes Festzelt errichtet worden, das man sogar aus dieser noch recht großen Entfernung gut sehen konnte. Anja wusste, dass etwa vierhundert Gäste – ehemalige Häftlinge sowie Angehörige der hier ermordeten Menschen – zum diesjährigen Gedenktag erwartet wurden. Skrowka hatte sie gebeten, ihn anzurufen, sobald sie eingetroffen war, aber Anja hatte plötzlich Hemmungen, dort hinunterzugehen. Minutenlang stand sie da, ließ ihren Blick zwischen der Burgruine und dem ehemaligen Lager hin und her schweifen und zögerte. Schließlich fuhr sie los, bog jedoch kurz vor dem Lager zum Steinbruch ab, parkte neben einem Kiosk und spazierte auf den schmalen Pfad zu, der zu der Burgruine hinaufführte. Es war der gleiche Weg, den sie letztes Jahr im Herbst mit Skrowka gegangen war. Sie wollte sich noch ein wenig sammeln, sich innerlich vorbereiten, bevor sie Menschen begegnete, die diese Hölle tatsächlich durchlitten hatten. Aber sie kam nicht weit. Die Gedenktafel am Fuß der Burgruine ließ sie jäh innehalten. War sie letztes Jahr auch schon beschmiert gewesen? Sie ging näher hin, um die beschmierte Textstelle lesen zu können.
Ein trauriges Kapitel erlebte der Flossenbürger Granitabbau in der Zeit des Dritten Reiches. Eine Vielzahl von … des … mussten in den Steinbrüchen arbeiten.
    Die Wörter »Häftlinge« und »Konzentrationslager« waren mit wütenden Kratzspuren bedacht worden, aber gerade noch lesbar. Wer dachte sich solche Formulierungen aus? Tausende von Menschen waren hier zu Tode geschunden worden, und daraus wurde »ein trauriges Kapitel« für den Granitabbau. Und selbst diese hohnlachende Abstraktion war dem anonymen Zensor noch zu viel gewesen.
    Anja machte kehrt, setzte sich wieder in den Wagen und fuhr planlos ein paar Kilometer. Sie konnte dem Festakt schwerlich fernbleiben. Spätestens heute Nachmittag bei der offiziellen Eröffnung musste sie anwesend sein. Schon allein Skrowka zuliebe. Aber war das nicht alles sinnlos? Die schönen Reden. Die betroffenen Gesichter. Und jenseits der Straße gärte noch immer der Hass.
    Sie passierte Waidhaus und Eslarn. Kurz darauf öffnete sich vor ihr die Talsenke von Hinterweiher, und sie näherte sich der Kurve, wo Schlei sie mit Heinbichlers schwerem Jeep gerammt hatte. Zwei kleine Holzkreuze mit Blumengestecken standen am Straßenrand. Sie fuhr weiter, bog auf den Feldweg ein, der zur Holzschranke führte, und stellte den Wagen ab. Sie spazierte durch den Wald und erreichte nach kurzer Zeit den Leybachhof. Die Fenster waren mit Pressspanplatten vernagelt. Sonst hatte sich nichts verändert. Auf dem Vorplatz wuchs Unkraut.
    Sie machte kehrt und gelangte bald zur Wildwiese. Es lagen keine Köder aus. Der Hochsitz wirkte noch baufälliger und vermoderter als vor einem Jahr. Sie setzte sich auf die Wiese, sah in den Himmel hinauf, riss ein paar Grashalme aus und ließ sie im Wind davonfliegen. Schließlich erhob sie sich wieder und schlug den Weg nach Faunried ein. Ihr Herz klopfte, als sie zwischen den Bäumen die ersten Häuser sehen konnte. Vor dem Gollashof war ein Wagen geparkt.
    Als Anja näher kam, bemerkte sie Annelie, die im Garten saß. Jetzt sah das Mädchen zu ihr hin. Anja blieb stehen. Annelie musterte sie kurz, dann wandte sie sich wieder einer Puppe zu, die vor ihr im Gras lag. Anja kam näher. Im Haus regte sich nichts.
    Sie ging neben dem Kind in die Hocke.
    »Wie heißt deine Puppe?«
    »Die hat keinen Namen.«
    Der Vorhang hinter einem der Fenster im Erdgeschoss bewegte sich. Anja wartete, ob ein Gesicht erscheinen würde, was aber nicht geschah. Sie wartete. Die Haustür öffnete sich. Ruperts Frau, einen Säugling auf dem Arm, trat auf den Treppenabsatz, blieb dort stehen und schaute sie stumm an.
    »Ich wollte gern deine Mutter besuchen, Annelie.«
    Das Kind drehte sich um und rief.

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