Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
hinab. Anja verzog erneut das Gesicht. Theorie und Praxis, dachte sie resigniert. Was Pavel da mit dem empfindlichen Waldboden veranstaltete, war ein Massaker.
»Was müssen wir auch Buchen nach China verkaufen?«, schimpfte Grossreither auf der Fahrt zurück ins Büro. »Können die das Holz für ihre Klavierfüße nicht selber anpflanzen?«
»Globalisierung«, sagte Anja.
»Mein Arsch. Bis der Stamm in China und wieder hier ist, hat der Transport zehnmal mehr Dreck erzeugt, als der Baum in hundert Jahren aus der Luft gefiltert hat. Ein Schwachsinn das alles. Und dann wollen sie auch noch die Preise drücken.«
»Meinen Sie, dass es nur darum ging?«
»Worum denn sonst? Ist doch immer das Gleiche. Qualität runterreden und billig einkaufen. Die Stämme waren A-Qualität.« Er verstummte, griff in die Vertiefung neben der Handbremse und zog ein Karamellbonbon hervor.
»Auch eins?«, fragte er.
»Nein danke.«
Grossreither rauchte seit einigen Wochen nicht mehr, aber angesichts seines Bonbonverzehrs fragte sich Anja, welche Sucht schädlicher war. Der Mann hatte miserable Laune, was sicher nicht nur an den Chinesen lag. Er fuhr ruckartig, drehte hoch, schaltete spät und schimpfte vor sich hin.
»Wie läuft’s in Hinterweiher?«
»Wir sind noch im Leybachforst.«
»Hm. Na ja. Sehr schnell geht’s ja nicht gerade bei Ihnen. Ist der Obermüller so langsam?«
»Nein. Aber wir hatten gestern einen merkwürdigen Zwischenfall. Xaver Leybach. Kennen Sie den?«
Grossreither schnaubte. »Sicher kenn ich den. Was war denn los?«
»Er hat uns heimlich beobachtet. Dann kam er uns mit dem Gewehr unterm Arm im Haingries entgegen und hat uns angeschrien, wir sollten seinen Wald in Frieden lassen. Es war ziemlich unheimlich.«
»Hat er denn nicht gewusst, dass Sie zum Kartieren kommen?«
»Die Benachrichtigungen sind im April rausgegangen. Einsprüche gab es keine, das habe ich geprüft.«
Grossreither kaute eine Weile auf seinem Bonbon herum, bevor er weitersprach. »Die Gollas sind schon geschlagen mit dem Xaver.«
»Ah ja?«
»Die müssen sich ganz schön strecken, um irgendwie über die Runden zu kommen. Wenn sie den Leybachwald hätten, könnten sie einiges draus machen. Der Lukas hat will einen Ökowald mit Wipfelpfad einrichten, um das Geschäft mit den Feriengästen anzukurbeln. Das machen die wohl neuerdings in Amerika.«
»Australien«, korrigierte Anja.
»Von mir aus. Jedenfalls ist Fremdenverkehr ja so ziemlich das Einzige, womit man hier noch ein bisschen Geld verdienen kann.«
»Und? Wo ist das Problem?«
»Xaver. Der will das nicht. Sie haben es ja selbst erlebt. Der geistert dort immer herum und erschreckt die Leute.«
»Wem gehört denn der Wald?«
»Na den Alten. Anna und Alois Leybach. Aber die kümmern sich nicht. Die Anna liegt seit Jahren krank im Leybachhof und würde wohl lieber heute als morgen sterben. Der Xaver ist eigentlich nicht zurechnungsfähig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ihn noch lange frei herumlaufen lässt. Aber ihn entmündigen zu lassen ist nicht so einfach. Er versorgt ja auch die Mutter.«
»Und Alois Leybach? Warum nimmt der das nicht in die Hand?«
Grossreither stieß ein unbestimmbares Brummen aus, das er manchmal vorausschickte, bevor er etwas sagte. »Der ist doch schon ewig auf und davon. Deshalb verlottert ja alles.«
Anja sagte nichts, sondern sah aus dem Fenster. Verlottert? Der Begriff zeigte deutlich, welch unterschiedliche Auffassung Grossreither und sie von einem Wald hatten. Sie ließ ihren Blick über die Landschaft schweifen. Die Hänge schimmerten in sattem Grün. Der Mais stand hoch und wurde allerorten abgeerntet. Die Sonne wärmte, und überall hing reifes Obst an den Bäumen. Der bayerische Nadelwald floss wie ein dunkelgrünes Meer kilometerweit in die Landschaft hinein. Grossreithers Forstordnung. Monokulturen, wohin das Auge reichte.
Voller Unbehagen dachte sie an die Szene auf der Wildwiese zurück. Geistert immer im Wald herum und erschreckt die Leute. Sie versuchte, sich den Xaver Leybach in Erinnerung zu rufen, den sie als Kind gekannt hatte. Er war sonderbar gewesen, aber niemals so aggressiv, wie sie ihn gestern im Haingries erlebt hatte. Xaver war ein harmloser Mensch gewesen, liebevoll zu ihr und den anderen Kindern. Auch mit den Tieren war er sanft umgegangen, sogar zärtlich im Gegensatz zu den anderen Jungs. Vor allem im Vergleich zu diesem Grobian Rupert. Lukas plante also einen Wipfelpfad. Und Rupert? Franz und
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