Schweigend steht der Wald: Roman (German Edition)
auch Frauenfarn und Waldhabichtskraut . Vor einem fast zehn Meter langen und bestimmt fünf Meter breiten, zart weiß blühenden Teppich von Lonicera japonica blieb Anja eine Weile lang fast ehrfürchtig stehen, bevor sie den schwer zu bekämpfenden Neophyten in ihren Unterlagen vermerkte.
Als sie gegen vier Uhr nachmittags fertigkartiert hatten, schickte sie Obermüller zum Wagen voraus und kehrte allein noch einmal zum Haingries zurück. Er brauchte ja nicht unbedingt danebenzustehen, wenn sie die verpatzte Probe noch einmal zog. Die Wiese sah genauso aus wie am Vortag. Die Wildköder waren unberührt und zeigten bereits Anzeichen von Verwesung. Bei den Maisködern, die am Wiesenrand in einer Blechkiepe von einem Buchenzweig herabhingen, hatte es in der Nacht wohl etwas Schwarzwildaktivität gegeben. Anja drehte sich um und blickte in Richtung des Hochsitzes, der am südlichen Ende der Wiese stand. Die Schussentfernung von der Kanzel war ideal, aber Jagdpächter Heinbichler war offenbar zurzeit nicht aktiv.
Sie wollte sich nicht lange aufhalten, ging zu der Stelle, wo sie Einschlag 25 vermutete, und suchte den Boden nach wurmartigen Erdröllchen ab, die von ihren Bodenbohrungen üblicherweise zurückblieben. Sie schritt einige Minuten lang die Parzelle ab und entdeckte endlich ein paar Reste der Bodenkrume, die sie für Probenrückstände vom Vortag hielt. Sie kniete sich kurz hin, um sicherzugehen, drückte dann den Bohrstock in den Boden hinein, hämmerte zweimal vorsichtig auf das stumpfe Ende, um den Stock zu fixieren, ließ ihn wieder los und trieb ihn dann mit gezielten Schlägen tiefer hinein. Als sie die 120-Zentimeter-Marke erreicht hatte, warf sie den Hammer ins Gras und steckte den kleinen Metallstab durch das Loch im Schaft. Dann stemmte sie sich mit beiden Beinen gegen den Boden, drehte den Bohrstock mehrfach hin und her und zog ihn mühsam wieder heraus.
Das Profil entsprach genau dem Muster, das sie gestern eingetragen hatte. Sie hatte keinen Fehler gemacht. Mit dem Boden stimmte etwas nicht. Er stand sozusagen auf dem Kopf. Sie nahm die Datenblätter der vorausgegangenen und nachfolgenden Proben zur Hand und fand die Störung bestätigt. Die Humusschicht war hier nur etwa halb so mächtig wie zuvor. Im B-Horizont waren graugrün verfärbte Lehmanteile eingelagert, die im restlichen Gelände erst viel tiefer auftraten. Dort hingegen … Sie stutzte und betrachtete helle Einlagerungen in der untersten Schicht. Sie griff in ihre Tasche, zog eine kleine Flasche mit Salzsäure heraus und tröpfelte ein wenig Flüssigkeit auf die hellen Stellen. Sie brausten sofort auf.
Anja blickte perplex auf das schäumende Substrat. Dann säuberte sie den Stock, ging fünfzehn Schritte in Richtung des letzten Einschlags zurück und zog eine zusätzliche Probe. Hier war kein Kalk im Boden. Sie schaute irritiert um sich und musterte das Gelände. Warum änderte sich die Horizontabfolge zur Mitte der Wiese hin so abrupt? Sie ging auf den Hochsitz am Wiesenrand zu und zog ein paar Schritte rechts davon eine dritte Probe. Das Profil war unauffällig. Die Humusauflage war ein wenig mächtiger, was am Waldrand zu erwarten war. Die tieferen Schichten jedoch entsprachen exakt dem Muster, das im Waldboden und fast überall auf der Wildwiese vorherrschte. Nur nicht an Einschlag 25.
Sie stützte sich auf den Bohrstock und nahm die gesamte entwaldete Fläche in Augenschein. Wenn sie die Profilübergänge genau erfassen wollte, müsste sie die Proben in einem deutlich kleineren Raster ziehen, etwa alle fünf oder zehn Meter, womöglich sogar noch enger, was sie ganz schön lange beschäftigen würde. Aber wozu eigentlich? Hier wurde schließlich nicht aufgeforstet. Grossreither würde sie für verrückt erklären, wenn sie mit Obermüller stundenlang diese Wildwiese kartieren würde.
Und was besagte die Unstimmigkeit schon? In der Mitte dieser Fläche war wahrscheinlich irgendwann einmal ein Loch gegraben und dann wieder aufgefüllt worden. Na und? Hatte sie verdächtige oder meldepflichtige Rückstände in den Bohrkernen gefunden? Nein. Alles sah normal aus. Kein Öl. Kein Giftmüll. Jedenfalls nichts, was auf illegale Einlagerungen oder Grundwassergefährdung hinwies. Die Kalkrückstände konnten von Bauschutt stammen, der hier entsorgt worden war. Oder hatte es einen Unfall gegeben, als die Fläche gerodet wurde? War Öl aus einer Maschine ausgelaufen und der Boden daher teilweise abgetragen worden? Und hatte sie
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